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Bibelschwurbel und Bibelkritik. Folge 10: Komplexitätsreduktion. All you need is love?
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Es geht in dieser Serie darum, seriöse Bibelauslegung und unseriöses Bibelschwurbeln voneinander zu unterscheiden. Und dabei das eine oder andere zu lernen aus dem Umgang mit populistischen Verschwörungsmythen, die uns in den vergangenen Monaten verstärkt begegnen.
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Heute geht es um das Phänomen der Komplexitätsreduktion.
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Viele Verschwörungsmythen sind deshalb so populär und weit verbreitet, weil sie eine komplexe Welt auf einfache Erklärungsformeln reduzieren. Gerade in einer Welt, die immer unübersichtlicher wird, in der wir immer mehr Informationen haben, aber das Gefühl haben, die Dinge geraten immer mehr außer Kontrolle, suchen Menschen nach einfachen Erklärungen. Nach einem Schlüssel oder einer Formel, mit der man die ganze verwirrende Wirklichkeit leicht und übersichtlich erklären kann.
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Zum Beispiel: Die Juden sind an allem schuld. Oder Frau Merkel möchte das deutsche Volk abschaffen. Oder Bill Gates hat einen Virus in die Welt gesetzt, um zusammen mit dem Impfstoff einen Microsoft Chip in jeden Menschen zu pflanzen. Oder wir alle werden von Aliens gesteuert. Einfache Formeln für komplexe Zusammenhänge. Komplexitätsreduktion nennt man das.
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Bei der Bibelauslegung geht es manchen Menschen ähnlich: Die Bibel ist ein komplexes Buch. Eigentlich sogar eine Sammlung von verschiedenen Büchern. Aus verschiedenen Jahrhunderten, von verschiedenen Autoren, in verschiedenen Sprachen und sehr unterschiedlichen literarischen Formen. Vieles in der Bibel ist widersprüchlich, unverständlich, unklar, sperrig.
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Und wir sind in den letzten Folgen immer wieder an den Punkt gekommen, wo wir als Bibelleser vor der Frage stehen: Will ich das, was ich da lese, annehmen und in meinen Glauben integrieren? Oder will ich es aus guten Gründen ablehnen und nicht oder nicht mehr glauben?
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Aber das ist keine einfache, sondern eine komplexe Frage. Denn woher weiß ich, wann es richtig ist, das was da steht anzunehmen und wann es richtig ist, es für mich abzulehnen?
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Wäre es da nicht schön, wenn es so etwas gäbe wie einen Generalschlüssel für den Umgang schwierigen Bibeltexten? Ein einfaches Prinzip, mit dem man Bibeltexte in richtig und falsch, gut und böse einteilen könnte? Eine Faustregel, anhand der man Entscheiden kann, welche Texte man guten Gewissens annehmen kann und welche man guten Gewissens ablehnen kann?
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Ich möchte in dieser und in den nächsten beiden Folgen solche vermeintlichen Generalschlüssel vorstellen, mit denen Menschen versuchen, die komplexe Realität biblischer Texte auf eine einfache Formel herunterzubrechen.
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Manche Menschen schlagen zum Beispiel vor, man könnte doch die Liebe als Maßstab nehmen. Das klingt eigentlich immer gut.
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Schon die Beatles haben gesungen: „All you need is love.“ Und auch Jesus hat die Liebe zu Gott und zum Nächsten als das höchste Gebot bezeichnet. Also könnte man bei der Bibelauslegung ja einfach sagen: Alles, was dem Maßstab der Nächstenliebe entspricht, das nehmen wir. Und was der Nächstenliebe widerspricht, das lehnen wir ab.
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Wenden wir diesen Generalschlüssel mal auf das Fallbeispiel für sperrige Bibeltexte an, das uns in dieser Serie immer wieder beschäftig hat: Texte, in denen Jesus Menschen mit der Hölle droht. Wenn wir den Auslegungsschlüssel der Nächstenliebe anlegen, dann scheint es auf den ersten Blick ganz klar: Die Drohung mit der Hölle verträgt sich nicht mit dem Gebot der Nächstenliebe. Also lehnen wir sie ab.
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Klingt eigentlich ganz schlüssig und einfach. Warum taucht das Beispiel dann also hier bei mir in der Serie über Bibelschwurbel und Bibelkritik auf?
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Weil seriöse kritische Bibelauslegung auch hier wieder ganz anders funktioniert. Einen einfachen, simplen Generalschlüssel, den man auf alle schwierigen Texte anlegen kann, gibt es in der kritischen Bibelwissenschaft leider nicht. Weil die Dinge eben komplexer sind.
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Denken wir mal einen Moment den Gedanken zu Ende: Für uns scheinen sich das Gebot der Nächstenliebe und die Drohung mit der Hölle gegenseitig auszuschließen. Es stellt sich also die Frage: Warum finden wir bei Jesus beides? Hat der diesen Widerspruch nicht bemerkt?
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Es gibt drei mögliche Antworten auf diese Frage:
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1. Jesus hat das nie gesagt.
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Weil beides sich widerspricht, kann es nicht sein, dass beides wirklich von Jesus stammt. Die Drohung mit der Hölle muss also unhistorisch sein. Sie wurde Jesus erst später von den Evangelisten untergeschoben. Oder von Paulus, der Jesus ja ohnehin oft missverstanden hat. Manche Theologen haben in der Vergangenheit diese Erklärung gewählt: Nächstenliebe, das trauen wir Jesus zu. Drohung mit der Hölle: So was hat Jesus bestimmt nie gesagt. Eine einfache Lösung. Komplexitätsreduktion.
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2. Jesus und Paulus haben das Prinzip der Nächstenliebe nicht verstanden.
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Eine zweite Möglichkeit wäre die: Jesus hat zwar beides gesagt, aber ihm ist der Widerspruch nicht aufgefallen. Und bei Paulus finden wir beides: Nächstenliebe und ewige Verdammnis. Der Widerspruch scheint beiden nicht aufgefallen zu sein.
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Vielleicht hat Jesus die Drohung mit der Hölle in Momenten von hoher emotionaler Anspannung gesagt. Da sind sozusagen die Pferde mit ihm durchgegangen. Aber die Nächstenliebe ist natürlich seine eigentliche Grundhaltung. Manche würden auch sagen: Jesus und Paulus haben den inneren Widerspruch nicht bemerkt, weil sie beide noch so sehr vom antiken jüdischen Denken geprägt waren. Die Drohung mit der Hölle ist sozusagen kultureller Restbestand, aber das Gebot der Nächstenliebe ist das, was eigentlich zählt. Auch das eine einfache Erklärung: Jesus und Paulus haben sich selbst widersprochen. Ihnen selbst war das zwar noch nicht bewusst, aus heutiger Perspektive aber erkennen wir das und entscheiden uns für die Nächstenliebe und gegen die Hölle. Komplexitätsreduktion.
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3. Jesus und Paulus haben eine andere Definition von Nächstenliebe
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Eine dritte Erklärung wäre die: Vielleicht hat Jesus ja ein anderes Verständnis von Nächstenliebe als wir. Vielleicht ist für ihn die Drohung mit der Hölle kein Widerspruch zur Nächstenliebe. Ja, ohne Zweifel, zwischen beiden besteht eine Spannung. Aber vielleicht ist es eine Spannung, die man aushalten muss, weil die Realität eben komplexer ist.
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Wenn wir sagen: Nächstenliebe und Hölle, das passt nicht zusammen, dann liegt das Problem vielleicht darin, dass wir unser modernes Verständnis von Nächstenliebe zugrunde legen. Oder eben das von den Beatles. Wir müssten uns also fragen: Haben Jesus und Paulus nicht verstanden, was Nächstenliebe ist? Oder haben vielleicht wir nicht verstanden, was Jesus und Paulus mit Nächstenliebe meinen?
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Kritische Bibelwissenschaft tut das letztere: Sie geht nicht mit einem fertigen Konzept von Nächstenliebe an die neutestamentlichen Texte heran und streicht alles, was diesem Konzept nicht entspricht. Sondern sie versucht herauszufinden, was das Neue Testament selbstund das frühe Judentum unter Nächstenliebe verstand. Das Ergebnis kann man zum Beispiel wieder unter bibelwissenschaft.de im Lexikon nachschlagen.
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Kritische Bibelwissenschaft nimmt wahr, dass da eine Spannung bleibt, zwischen dem, was wir unter Nächstenliebe verstehen und dem, was Jesus darunter versteht. Zwischen unserem Gefühl, dass Nächstenliebe und Höllendrohung nicht zu einander passen, und der Beobachtung, dass bei Jesus beides nebeneinander zu finden ist. Kritische Bibelauslegung lernt, mit dieser Spannung zu leben und sie nicht einfach durch eine unterkomplexe Erklärung aufzulösen.
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Ablehnung oder Annahme – aber keine alternative Auslegung
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Man kann also das Gebot der Nächstenliebe als einen Schlüssel verwenden, die Aussagen Jesu über die Hölle besser zu verstehen:
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Aber: Dieser Schlüssel führt nicht zu einer neuen oder alternativen Auslegung der sperrigen Bibeltexte. Sondern er führt, wie in den vergangenen Folgen so oft, entweder zu einer begründeten Ablehnung oder zu einer begründeten Annahme dieser Bibeltexte.
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Beides, Anlehnung oder Annahme, sind seriöse Alternativen, die man respektieren sollte.
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Geschwurbel wäre es aber, wenn man behauptet, die Aussagen von Jesus würden irgendwie eine neue oder andere Bedeutung erhalten, wenn man sie durch die Brille der Nächstenliebe betrachtet. Das tun sie nicht. Es bleibt bei der Entscheidung zwischen Ablehnen oder Annehmen. Eine alternative Auslegung gibt es leider auch hier nicht.
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Man kann die schwierigen Bibeltexte für unecht erklären oder für zeit- oder situationsbedingt und sie deswegen ablehnen. Viele kritische Bibelforscher tun das.
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Oder aber man kann sie annehmen. Auch wenn sie unbequem und schwierig sind. Und man kann versuchen, mit dieser komplexen Spannung leben zu lernen. Vielleicht überdenkt man das eigene Konzept von Nächstenliebe. Oder man sucht nach einem Verständnis von Hölle, dass auch die Warnung davor als einen Akt der Nächstenliebe versteht. In jedem Fall wird es komplizierter, als wenn die schwierigen Stellen einfach streichen.
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Aber das ist eben die Herausforderung von kritischem Bibellesen. Komplexität nicht einfach zu reduzieren, sondern auszuhalten.
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