
Wie kann man das Verhältnis Jesu zu Frauen beschreiben? Eine Google-Abfrage zum Thema „Jesus und die Frauen“ liefert vor allem ein Ergebnis: „Revolutionär“. „Wie Jesus die Sicht auf Frauen revolutionierte“ (Evangelium21.net). „Ein Revolutionär in Gottes Auftrag: Jesus und die Gleichberechtigung“ (evangelisch.de). „Wie Jesus Frauen behandelt hat, war revolutionär“ (Amazon.de). Die Google KI fasst die Ergebnisse so zusammen: „Jesus begegnete Frauen mit revolutionärem Respekt und Mitgefühl“. Aber was sagt eigentlich das Neue Testament? Es lohnt sich, hier einmal genauer hinzusehen.
1. Jesus begegnet Frauen mit Liebe und Wertschätzung
Dass Jesus freundlich zu Frauen war, steht außer Frage. Er führt geistliche Gespräche mit der samaritanischen Frau am Brunnen (Joh 4,1-26) und mit einer Frau aus Syro-Phönizien (Mk 7,24-30). Er nimmt sich Zeit, kranke Frauen zu heilen, etwa eine Frau mit Blutungen (Mk 5,21-34) eine Frau mit einem deformierten Rücken (Lukas 13,10-17), oder die Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,30-31). Sünderinnen spricht er Vergebung zu (Luk 7,36-50 und Joh 8,2-11). Jesus hatte weibliche Nachfolgerinnen (Mk 15,40-41; Lk 8,1-3), und nach seiner Auferstehung zeigte Jesus sich zuerst einer Frau: Maria aus Magdala (Joh 20,11-18). Manchmal allerdings reagiert Jesus auch gegenüber Frauen überraschend abweisend (Joh 2,4; Mk 3,31-35; Mk 7,27; Mt 20,20-21).
2. Jesus macht Frauen sichtbar
Nicht nur in seinem Verhalten gegenüber Frauen, sondern auch in seinen Predigten und Gleichnissen zeigt sich eine Wertschätzung von Frauen: Jesus stellt Frauen, insbesondere Witwen, mehrfach als Vorbilder des Glaubens dar, etwa die Witwe aus Sarepta, von der das Alte Testament erzählt (Luk 4,26), die Witwe, die ihren letzten Groschen im Tempel spendet (Mk 12,42-43) oder die Witwe, die ein Vorbild für beharrliches Gebet ist (Luk 18,1-8).
Insbesondere der Evangelist Lukas hebt in seiner Darstellung des Lebens Jesu die Rolle von Frauen deutlicher hervor als die anderen Evangelisten: So berichtet er von den Jüngerinnen Jesu, die ihn finanziell unterstützen (Lk 8,1-3), von der Auferweckung des Sohnes einer Witwe (Lk 7,11-17), vom Besuch bei Maria und Martha (Lk 10,38-41) und von weinenden Frauen auf dem Weg zum Kreuz (Lk 23,27-32). In Kindheitsgeschichte Jesu erwähnt er gleich mehrere Paare, bei denen die Frauen als wichtige Akteurinnen in Erscheinung treten (Zacharias und Elisabeth, Maria und Josef, Hanna und Simeon). Und in seiner Anordnung der Worte von Jesus bildet er ganz bewusst weitere „Geschlechterpaare“ und macht dadurch deutlich, dass Jesus immer wieder Frauen ausdrücklich ins Blickfeld holte: Etwa bei den Gleichnissen vom Hirten, der sein Schaf sucht, und der Frau, die ihren Groschen sucht (Lk 15,1-10). Bei den Gleichnissen vom Senfkorn, den ein Mann pflanzt, und dem Sauerteig, den eine Frau knetet (Lk 13,18-21). Bei seiner Predigt in Nazareth, wo Jesus die Witwe von Sarepta und den Hauptmann Naëman einander gegenüberstellt (Lk 4,25-27) und später dann die „Königin des Südens“ und „die Männer von Ninive“ (Lk 11,31-32). In dieser besonderen Erzählweise des Lukas wird deutlich: Jesus gab bewusst Frauen neben den Männern Raum und Wert in der Art, wie er redete und lehrte. Auch das können wir von ihm lernen.
3. Die Wertschätzung von Frauen ist im Judentum nicht revolutionär
Bei aller Begeisterung über die positive Haltung gegenüber Frauen ist allerdings auch ein wenig Ernüchterung und Selbstkritik angesagt. Denn das beliebte, und schon sehr alte, Motiv vom „revolutionären“ Jesus hat auch eine dunkle Schattenseite: Denn es setzt voraus, dass andere Männer seiner Zeit Frauen grundsätzlich anders, und zwar nicht wertschätzend, behandelt hätten. Dieses negative Bild von einem frauenfeindlichen Judentum ist aber ein altes judenfeindliches Klischee, das sich an historischen Quellen so nicht belegen lässt. In Predigten etwa wird oft behauptet, jüdische Männer (oder Rabbis) hätten grundsätzlich nicht mit Frauen gesprochen. Dann wäre es natürlich schon „revolutionär“, dass Jesus überhaupt mit Frauen spricht.
Es wird auch behauptet, Frauen dürften im Judentum nicht Tora lernen. Dann wäre es „revolutionär“, dass Jesus Jüngerinnen hatte. Auch die weiblichen Zeuginnen der Auferstehung gelten als „revolutionär“, weil Frauen angeblich im Judentum nicht vor Gericht aussagen durften. Alle diese Behauptungen über das Judentum lassen sich aber an historischen Quellen nicht belegen. Die moderne feministische Bibelauslegung hat deshalb, nachdem sie in ihren Anfängen das Bild vom „revolutionären Jesus“ sehr häufig mit dem düsteren Stereotyp eines „frauenfeindlichen Judentums“ begründet hat, diese Sichtweise inzwischen gründlich revidiert: Jesus hat Frauen wertgeschätzt, das stimmt. Aber nicht, obwohl er ein Jude war. Sondern gerade weil er ein Jude war.
Denn schon im Alten Testament, in der jüdischen Bibel also, sind Mann und Frau gleichermaßen nach Gottes Bild geschaffen (Gen 1,27). Das war im Kontext der orientalischen Welt wirklich revolutionär. Starke Frauen wie Sara, Miriam, Debora oder Hanna treten in der jüdischen Bibel als Hauptpersonen auf. Abraham wird sogar von Gott befohlen: „In allem, was Sara zu dir sagt, höre auf ihre Stimme“ (1. Mose 21,12). Ganze Bücher des Alten Testaments, Rut, und Ester, sind nach ihren weiblichen Hauptpersonen benannt.
In den Schriften der jüdischen Rabbinen finden wir unzählige Beispiele von Rabbis, die mit Frauen Lehrgespräche führen. Sogar das Gespräch eines jüdischen Rabbis mit einer Frau aus Samarien wird berichtet. Rabbi Simeon ben Azzai (1. Jh. n.Chr.) erklärte, es sei die Pflicht jedes Mannes, seine Tochter Tora zu lehren (Sota 21b). Beruria, die Frau des berühmten Rabbi Meir (2. Jh. n.Chr.), war dafür berühmt, dass sie die Lehren von 300 Gelehrten an einem einzigen Tag lernte (Pesachim 62b), und dass sie eine größere Gelehrte war als ihr Vater, der ebenfalls Rabbi war (Tosefta Kelim 4,9). Ihre Lehrmeinungen werden in rabbinischen Schriften mehrfach zustimmend zitiert (Tosefta Kelim 4,8 und 8,3).
Sicher gab es im Judentum zur Zeit Jesu (so wie auch im heutigen Christentum) beides: Frauenfeindlichkeit und Wertschätzung von Frauen. Jesus gehörte zu denjenigen Juden, die Frauen wertschätzten. Das macht ihn aber weder revolutionär noch unjüdisch. Es zeigt ihn schlicht als toratreuen Juden, und macht ihn zu einem Vorbild, dem wir nachfolgen können.
4. Bei Jesus waren Frauen nicht wirklich gleichberechtigt
Eine weitere Beobachtung kommt aber hinzu: Jesus war zwar liebevoll und wertschätzend gegenüber Frauen. Dass er sie gleichberechtigt hat, kann man aber wirklich nicht sagen. Schon die Wahl von zwölf Männern als Apostel spricht eine andere Sprache. Auch sonst ist nicht zu erkennen, dass Jesus die traditionellen Rollen von Männern und Frauen in der Gesellschaft an irgendeiner Stelle in Frage stellt oder durchbricht. Das mag uns als heutige Leser enttäuschen, es gehört aber zur historischen Redlichkeit dazu. Dass die moderne TV-Serie „The Chosen“ viele starke Frauen zu Hauptakteurinnen ihrer Story macht, ist ein hilfreiches filmisches Stilmittel, gerade weil es uns vor Augen malt, dass die Evangelien solche Figuren eben nicht enthalten.
Selbst da, wo Frauen besonders erwähnt werden, bleiben sie meist stumm: Hanna erscheint zwar neben Simeon, aber anders als bei ihm erfahren wir bei ihr nicht, was sie zu sagen hat (Lk 2,38). Die Frauen sind zwar die ersten Zeuginnen der Auferstehung. Trotzdem sind es nur Männer, deren Worte wir anschließend hören. Jesus bleibt (wie dann später auch Paulus) weitgehend innerhalb der vorhandenen gesellschaftlichen Grenzen, was Geschlechtergerechtigkeit angeht. Obwohl vor Gott kein Unterschied besteht zwischen Männern und Frauen (Gal 3,28), bleiben die Unterschiede im Alltag doch im Neuen Testament bestehen. Und es ist an uns als Bibelleser und Jesusnachfolger, herauszufinden, welche Unterschiede auch heute noch bestehen bleiben und welche wir – im Namen Jesu – überwinden sollten.
Jesus hat als Mann die Frauen seiner Zeit mit den Augen Gottes gesehen und ist ihnen entsprechend mit Liebe, Achtung und Wertschätzung begegnet. Revolutionär war das nicht, aber sicher auch nicht selbstverständlich. Für mich als Mann ist das Vorbild und Ansporn, ihm in dieser Haltung nachzufolgen und ähnlicher zu werden.
(Ursprünglich erschienen in: IDEA Magazin, 8.10.2025. Download des Originals hier)
