Es ist Ostermontag 2017. Und gleichzeitig der letzte Tag des jüdischen Passafestes in diesem Jahr. In aller Frühe sind wir heute morgen auf dem Flughafen von Tel Aviv gelandet. In der Kirche von Nazareth, die über dem Elternhaus Jesu erbaut ist, feiern wir mit einer Handvoll einheimischer Christen eine Messe zum Fest der Auferstehung.

Anschließend trinken wir noch einen Kaffee im Straßencafe eines modernen Einkaufszentrums om jüdischen Teil der Stadt und wärmen uns in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Statt des üblichen Weißbrot-Sandwiches gibt es natürlich nur ungesäuerte Brotfladen. Es ist ja alles noch „kosher le pesach“ – koscher für die Passazeit.

Es reichen wenige Stunden in diesem kleinen aber doch so vielfältigen Land, und man ist wieder eingetaucht in diesen eigenartigen Mix von Kulturen und Religionen, von unterschiedlichen Jahrhunderten und unterschiedlichen Sprachen, von Glaube und Alltag, von Vertrautem und Überraschendem. In das Land, in dem jüdischer und christlicher Glaube so eng beieinanderliegen und ineinander verwoben sind, dass es schwerfällt, beides auseinanderzuhalten. Und in dem ich mich immer wieder frage: Sollte man denn beides auseinanderhalten? Der Jesus, der hier in Nazareth aufwuchs, hat immerhin nicht in einer christlichen Kirche, sondern in einer jüdischen Synagoge gelehrt.

Und dennoch trennten sich nur wenige Jahrzehnte später die Wege der christlichen Gemeinde von denen der jüdischen. Und es folgte eine lange Geschichte der gegenseitigen Feindschaft und Abgrenzung, später dann der einseitigen Verfolgung und Vernichtung. Heute sehen viele Menschen Judentum und Christentum als zwei voneinander getrennte Religionen an, die vielleicht aus einer gemeinsamen Wurzel entspringen, aber zwischen denen es doch klare Grenzen gibt. Für die Mehrheit der Israelis ist das Christentum eine fremde, heidnische Religion, die sich um einen römischen Göttersohn namens Christus schart. Und für die Mehrheit der Christen in Deutschland ist das Judentum eine Religion, die man im besten Fall aus dem Geschichtsunterricht oder dem Museum kennt, im schlimmsten Fall als Drahtzieher einer Weltverschwörung oder als Besatzungsmacht eines vermeintlichen Apartheidsstaates diffamiert.

Miene Gedanken schweifen zurück in die Jahre, in denen ich hier im Land gelebt habe: Und zu den vielen Begegnungen zwischen Christen und Juden, die für mich so hilfreich waren, um alte Klischees und Vorurteile zu überwinden. Eine Zeit, in der ich gelernt habe, dass es „das Judentum“ ebenso wenig gibt wie „das Christentum“.  Und dass man Gräben nur dann überwinden kann, wenn man anfängt, Brücken zu bauen. Ich denke an Esther, die ich öfters mit meinem Auto abgeholt hatte, um sie mit zu einem Treffen des „Regenbogen-Clubs“ zu nehmen, einer Gruppe von jüdischen und christlichen Lehrern, Rabbis und Pastoren, die sich regelmäßig treffen, um von einander zu lernen. Esther war 1938 mit einem der berüchtigten „Kindertransporte“ aus Deutschland herausgeschleust worden. Ihre Eltern musste sie zurücklassen, und außer einigen Briefen, die sie vor ihrem Abtransport nach Auschwitz noch schreiben konnten, hat sie nie mehr etwas von ihnen gehört.  Esther hätte allen Grund, Christen – und insbesondere Deutschen – mit Groll und Hass zu begegnen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Immer wieder hat sie uns ihr Haus geöffnet für Gruppen von jungen Christen aus Deutschland, um von ihrem Glauben, ihrem Leben und ihrer Geschichte zu erzählen. Und sie reiste trotz ihres hohen Alters immer wieder nach Deutschland, um hier in Schulklassen das Gleiche zu tun. Esther setzte sich intensiv für die Begegnung zwischen Juden und Christen ein, weil sie ein positives Zeichen setzen wollte gegenüber den Schatten der Vergangenheit, aber auch gegenüber dem düsteren Bild des israelisch-palästinensischen Konflikts, das so oft die Medien-berichterstattung über Israel dominiert: „Wenn wir uns gegenseitig totschießen, dann ist sofort die Presse da und berichtet. Aber wenn wir uns friedlich begegnen und es keinen Konflikt gibt, dann ist es langweilig für die Presse“.

Tatsächlich aber habe ich in Jerusalem jede Menge solcher friedlicher Begegnungen zwischen den Religionen erlebt, die von gegenseitiger Achtung und Respekt geprägt sind. Nicht nur in den Treffen des „Regenbogen-Clubs“ oder anderer Foren der interreligiösen Begegnung. Sondern auch durch die vielen persönlichen Begegnungen. Als deutsche Kirchengemeinde von Jerusalem waren wir regelmäßig eingeladen, Sonntags nach dem Gottesdienst in das Haus eines betagten wienerischen Rabbiners einzukehren, der in der Nachbarschaft eine Art Bibelschule für jüdische Mädchen leitete. Dann gab es erst intensive Gespräche über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Bibel-auslegung, im Glauben und in der Lebenspraxis, und dann leckeres gemeinsames Essen aus koscherer Küche. Und ich habe bei diesen Treffen gelernt: Mit vollem Mund fällt das Zuhören leichter.

Wieder ganz anders waren die Treffen mit unserer Freundin Natanya: Eine brennende Zionistin, aber völlig unreligiös und politisch eher auf der linken Seite: Mit ihren fast 80 Jahren geht sie noch heute regelmäßig zu den Checkpoints an der israelisch-palästinensischen Grenze, um sich dort bei den jungen israelischen Soldaten für eine humane und respektvolle Behandlung der palästinenischen Grenzgänger einzusetzen. Oder sie hilft muslimischen arabischen Bauern bei der Olivenernte, die dabei oft von randalierenden jungen Israelis aus jüdischen Siedlungen bedrängt werden. Natanya ist für mich ein weiteres Beispiel dafür, wie man mutig und fröhlich die üblichen Grenzen von links und rechts, palästinensisch und zionsitisch, gut und böse überqueren und durchbrechen kann. Und auch die von Christentum un Judentum: Obwohl sie selbst überhaupt nicht religiös ist, ist es ihr ein Anliegen, unseren Glauben besser kennenzulernen: Jedes Jahr zu Weihnachten kam sie mit einer ganzen Gruppe von jüdischen Freunden in unser Haus in der arabischen Altstadt, um mit uns zu feiern. Das ganze Programm, mit Weihnachtsliedern, Weihnachtsgeschichte, Gebeten und Psalmen. Mit vielen vielen interessierten Fragen. Und natürlich auch mit einem echt deutschen Weihnachtsmann. Umgekehrt wurden wir dann eingeladen, um mit ihr bei ihren Freunden das Passafest zu feiern. Sie selbst wusste ja nicht, wie das geht. Aber wegen uns hat sie sich extra vorher noch ein kleines Gebetbüchlein und eine Anleitung „Passafest für Anfänger“ gekauft, um sich kundig zu machen.

Und noch vor einigen Wochen erhielt ich eine Email von Natanya, in der sie mir Grüße von einem gemeinsamen Freund ausrichtete: Ein südafrikanischer Jude, der nach Israel einwanderte und hier zum christlichen Glauben fand. Inzwischen ist er Jesuitenpater und betreut die Gemeinde der „hebräischen Katholiken“: Das ist so etwas ähnliches wie die katholische Entsprechung der „messianischen Juden“ auf der evangelischen Seite. Und nebenher unterrichtet er noch an einem Bibelseminar für christlich-arabische Palästinenser in der West Bank. Wieder so ein Grenzgänger und Brückenbauer, der sich so gar nicht in die üblichen Schubladen einordnen lässt.

So sitze ich also im jüdischen Cafe in Nazareth und denke darüber nach, was ich aus all diesen Begegnungen und Beziehungen (und es waren noch so viele andere) mitnehme: Im Vergleich zu dem, was ich hier in Deutschland an interreligiöser und an jüdisch-christlicher Begegnungen mitnehme, ist es vor allem eines: Es ist der Mut, zum eigenen Glauben zu stehen, auch dann, wenn er anders ist. Den anderen liebevoll und mit Respekt zu behandeln, auch dann, wenn man nicht einer Meinung ist. In Derutschland erlebe ich Dialog oft sehr weichgespült und unehrlich: Man betont das Gemeinsame, man verwischt die Unterschiede, man überspielt die Konflikte. Es scheint, man kann nur dann miteinander befreundet sein, wenn man sich einig ist, wenigstens in den wichtigsten Fragen. Uns wenn man nicht allzu überzeugt von der eigenen Wahrheit ist.

In Israel aber war das ganz anders: Hier war es erlaubt zu streiten. Hier durfte man schmerzhafte Differenzen beim Namen nennen und konnte trotzdem Freund bleiben. Hier war es ganz selbstverständlich, dass jeder von der Wahrheit des eigenen Glaubens überzeugt war. Hier habe ich ein echtes Ringen um die Wahrheit erlebt, kein verkrampftes Streben nadch Harmonie. Und ein entspanntes und fröhliches Miteinander: Die Fähigkeit, mit einander und übereinander Scherze zu machen. Bei allem Ernst sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen und dafür bereit zu sein, vom anderen zu lernen. Ohne dabei den eigenen Glauben verstecken zu müssen.

Am Nachmittag des Tages stehe ich in Kapernaum. Hier liegen die alte jüdische Synagoge und das Haus der ersten christlichen Gemeinde einander gegenüber, nur einen Häuserblock entfernt. Für mich ein Symbol für die schillernde Geschichte der jüdisch-christlichen Begegnung: Trennung und doch Nachbarschaft. Gegenüber und doch Miteinander. Und vor allem die Einsicht, dass sich die Grenzen eben doch nicht immer so sauber ziehen lassen: Denn die Gemeinde, die sich hier in der „christlichen“ Kirche über dem Haus des Petrus versammelte, war keine „judenreine“ Gemeinde. Sie bestand noch einige Jahrhunderte lang aus Juden und aus Nichtjuden. Was sie verband, war ihr gemeinsamer Glaube an Jesus. Und was sie von der Synagoge am anderen Ende trennte, war eben nicht ihre Abwendung vom Judentum, sondern ihre Hinwendung zu Jesus. Für sie war der Glaube an Jesus eben keine neue, oder andere, Religion. Für sie war klar: Wenn Jesus nicht der Messias Israels ist, dann ist er überhaupt nicht Messias.

Für die Begegnung zwischen Juden und Christen heute ist mir deshalb beides wichtig: Ein respektvolles und nachbarschaftliches Gegenüber, das Unterschiede nicht verwischt und Gemeinsamkeiten nicht verschweigt, und das entspannt und fröhlich miteinander voneinander lernt. Aber gleichzeitig auch die Bereitschaft, die bestehenden Grenzen in Frage zu stellen und fröhlich zu überschreiten: Dazu gehört die Einsicht, dass es zwischen Judentum und Christentum eben keine klare Grenze, sondern eine ganz beträchtliche Gruppe von Grenzgängern gibt, die zu beidem gehören, obwohl sie von beiden Seiten Ablehnung erfahren: Die Realität der messianischen Juden kann und darf aus dem christlich-jüdischen Gespräch nicht angstvoll ausgeklammert werden, sondern sie muss mutig und ehrlich angesprochen werden.  In Israel war das möglich, auch wenn es für die Beteligten oft schmerzhaft war. Hier in Deutschland müssen wir es wohl erst noch lernen.

Am Abend des Tages stehen wir in Magdala am See Gennezareth. Hier wurde vor wenigen Jahren eine alte jüdische Synagoge ausgegraben, in der wohl auch Jesus einst gepredigt hat. Als die Sonne untergeht, fallen ihre goldenen Strahlen auf eie Abbildung des siebenarmigen Leuchters, der hier auf einem Stein eingraviert war. An diesem Ort findet das zusammen, was wir leider immer noch trennen: Der jüdische Glaube und der Glaube an Jesus. Für mich ein verheißungsvoller Lichtstrahl der Hoffnung am Ende eines eindrücklichen Tages.


Quelle: EINS. Magazin der Deutschen Evangelischen Allianz 2/2017, S. 13-15

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