Ich bin ein Mensch, der gerne kritisch denkt. Und ich bin ein Mensch, der der Bibel von Herzen vertraut. Passt beides zusammen? Ja. Aber ich nehme wahr, dass das für viele Christen um mich herum gar nicht so selbstverständlich ist. Sie versuchen mich mit Menschen- und mit Engelszungen davon zu überzeugen, dass beides eben nicht zusammen geht. Und zwar von zwei ganz unterschiedlichen Seiten:

Kritisch denken?

Da sind auf der einen Seite diejenigen, die mir sagen: Die Bibel darf man nicht kritisch betrachten. Sie ist ja heilige Schrift und Gottes Wort. Deshalb verbietet sich jede Bibelkritik. Du musst glauben und akzeptieren, nicht fragen und forschen. Und vor meinem geistigen Auge entsteht das Bild einer zerbrechlichen Porzellanschale, die man zwar in ihrer Schönheit betrachten und bestaunen darf, die aber zu zerbrechen droht, sobald man sie in die Hand nimmt oder zu hart anfasst. Es kommt mir fast so vor, als müsste ich Angst haben, dass die Bibel sich als dünnes Brett entpuppt, sobald ich anfange, sie kritisch zu betrachten oder genauer zu untersuchen. Als würde sie zerbröseln oder zwischen meinen Fingern zerrinnen, wenn ich es wage, sie dem harten Test menschlicher Wissenschaft zu unterziehen.

Und dann wird mir klar: Dieses Bild von einer empfindlichen und unantastbaren Bibel möchte ich gar nicht haben. Und es entspricht auch nicht den Bildern, die ich in der Bibel selbst finde: Dort wird Gottes Reden als fest, beständig und zuverlässig beschrieben. Bilder von Felsen oder einem Hammer zeigen mir, dass man Gottes Wort nicht behutsam vor Fragen bewahren muss, sondern dass es jeden Test der Zeit besteht. Und ich lese in der Bibel von einem Gott, der selbst jede Menge Kritik erträgt, der sich bohrenden Fragen und gewalttätigen Angriffen aussetzt und dennoch am Ende, wenn alles andere vergangen ist, immer noch als der Ewige dasteht. Wenn ich also der Bibel wirklich vertraue – und das tun ja alle, die mich von dieser Seite aus überzeugen wollen –, dann ist dieses Vertrauen für mich kein Argument, auf kritische Fragen und wissenschaftliches Forschen zu verzichten. Ganz im Gegenteil: Weil ich der Bibel wirklich vertraue, bin ich überzeugt davon, dass alles ernsthafte und ehrliche Forschen und Fragen am Ende nur die Wahrheit zu Tage bringen kann. Und nichts anderes. Daher braucht sich die Bibel nicht vor kritischen Fragen zu fürchten.

Der Bibel vertrauen?

Auf der anderen Seite jedoch stehen die, die mir sagen: Warum willst du der Bibel vertrauen? Sie ist doch nur ein Buch, von Menschen geschrieben. Du sollst Gott vertrauen, nicht der Bibel. Und dann erklären sie mir, dass „Gottes Wort“ nicht dasselbe ist wie „die Bibel“. Denn Gott redet ja auf viele Weise, nicht nur durch ein Buch. Überhaupt ist „die Bibel“ ja gar kein Buch, sondern eine lose Sammlung von ganz unterschiedlichen Schriften ganz unter­schied­licher Autoren. Und sie haben natürlich Recht: Denn hier unterscheidet sich die Bibel ganz grundlegend zum Beispiel vom Koran, der nach islamischer Überzeugung als ein fertiges Buch im Himmel existiert und von dort per Diktat auf die Erde kam. In der Bibel dagegen reden viele Stimmen, und nicht alle sind die Stimme Gottes. Manchmal kennen wir die Namen derer, die reden und schreiben. Manchmal aber auch nicht. Und sogar der Teufel kommt zu Wort. Manche Theologen sagen mir daher: Die Bibel ist nicht Gottes Wort, aber du kannst Gottes Wort in ihr finden, wenn du genau genug suchst. Oder wenn du die richtige Brille aufsetzt. Oder einen bestimmten Filter darüber laufen lässt. Solche Brillen und Filter können ein theologisches Prinzip wie die Rechtfertigung, ein Schlagwort wie die „Mitte der Schrift“ oder ein Zitat wie „was Christum treibet“ sein (eine Formel, die so übrigens nicht, wie oft angenommen, von Luther stammt.[i]) Kurzum: Es sind die Theologen, die mir vorschlagen, wie ich in der Bibel Gottes Wort von anderen Worten unterschieden kann. Ihren Vorschlägen müsste ich also vertrauen.

Und hier stellt sich dann eben doch die Vertrauensfrage: Denn vertrauen muss ich offenbar sowie­so. Entweder vertraue ich darauf, was mir heutige Experten als den richtigen Filter oder die richtige Brille zum Verständnis vorschlagen. Oder aber ich vertraue darauf, dass diese Brille in der Bibel selbst zu finden ist. Und dass sie nur aus dem Lesen der ganzen Bibel heraus erschlossen werden kann. Dann müsste ich mich aber selbst auf die Suche danach machen, was die Bibel über sich sagt. Und davon ausgehen, dass Gott mir durch die ganze Bibel, vielleicht sogar durch die Worte von Zweiflern und Sündern, ja sogar durch die Worte des Teufels selbst etwas zu sagen hat. Dann müsste ich also am Ende doch der Bibel vertrauen und nicht nur ihren heutigen Auslegern.

Ein mühsamer Weg

Sicher, das ist ein mühsamer Weg. Einfacher erscheint der Weg, der mir von meinen gutmeinenden Geschwistern auf beiden Seiten vorgeschlagen wird: Entweder gar nicht kritisch zu fragen und einfach weiterhin das zu glauben, was gläubige Geschwister und meine Gemeinde mir als „unfehlbare Lehre der Schrift“ anbieten. Oder aber der Bibel gar nicht mehr zu vertrauen und mich stattdessen nur noch auf das zu verlassen, was Lexika und Schulbücher mir als „unfehlbares Ergebnis der Wissenschaft“ anbieten. Und dann einfach zu sagen: „Das ist unecht“, „das ist unwichtig“ oder „das ist für mich nicht mehr gültig“. Beide Wege scheinen auf den ersten Blick leichter, aber beide fordern mir als kritisch denkendem Menschen ehrlich gesagt zu viel Glauben ab.

Ich möchte mich daher selbst auf den Weg machen, die Bibel zu erforschen, sie zu drehen und zu wenden, sie abzuklopfen und zu schütteln. Mit allen Methoden und Werkzeugen, die mir zur Hand sind. Weil ich davon überzeugt bin, dass ich damit die Bibel nicht kaputt machen kann, sondern am Ende nur das zu Tage fördern kann, was wirklich in ihr steckt. Natürlich, an dieser Stelle hinkt der Vergleich auch: Denn die Geschichte der Forschung hat gezeigt, dass auch die wohlmeinendste Bibelforschung in ihrer Suche nach der Wahrheit oft viel Unsinn, Irrtümer und Wider­sprüche hervorgebracht hat. Vieles von dem, was noch vor fünfzig Jahren als „sicheres Ergebnis der Forschung“ bestaunt wurde, wird heute nur noch müde belächelt. Eine wissen­schaftliche Untersuchung der Bibel bringt also beileibe nicht nur Wahres hervor. Und das gilt natürlich auch für meine eigene kritische Beschäftigung mit der Bibel: Sie wird ganz bestimmt und ohne Zweifel zu vielen Fehlern und Irrtümern führen.

Aber das alles bestätigt mich ja nur in meiner Vermutung, dass es am Ende um die Vertrauensfrage geht: Wirkliche Wahrheit finde ich eben nicht in menschlichen Theorien und Hypo­thesen, sondern nach christlicher Überzeugung nur in der Bibel selbst. „Der Bibel vertrauen“ heißt also nicht, einer bestimmten Auslegung der Bibel zu vertrauen – und sei es meiner eigenen. Sondern es heißt, immer wieder hinein zu schauen in die Bibel und von dort her die eigenen Antworten, wie auch die der anderen, auf den Prüfstand zu stellen. Anders geht es nicht. Und deshalb heißt es für mich am Ende: Lieber der Bibel vertrauen als unseren eigenen vorläufigen Urteilen und Erkenntnissen. Und zwar: Der ganzen Bibel. Ohne die Filter und Brillen, die andere schon für mich zurechtgezimmert haben.

Entmythologisierung

Im Jahr 1941 machte der Marburger Theologe Rudolf Bultmann mit einem Aufsatz von sich reden, der später die Grundlage für das Programm einer „Entmythologisierung“ der Bibel bildete. Dieses Programm war einer jener Filter, die vorgeschlagen wurden, um zwischen „Wahrem“ und „tatsächlich Geschehenem“ in der Bibel zu unterscheiden: Zwar seien viele der Ereignisse, von denen die Bibel erzählt, nicht „tatsächlich“ geschehen, unter anderem Heilungen und Wunder, die Jungfrauengeburt oder die Auferstehung Jesu. Sie seien aber dennoch nicht weniger „wahr“: Denn sie seien in Wirklichkeit keine Tatsachenberichte, sondern Glaubensaussagen über existentiell wichtige Lebenserfahrungen. Nur äußerlich seien sie in das Gewand mythischer Erzählungen gekleidet. Wenn man aber den Mythos richtig verstehe, dann könne auch die tatsächliche Wahrheit einer nicht geschehenen Tatsache zum Vorschein kommen. Bultmann wollte also nicht, wie viele seiner Vorgänger, „Echtes“ von „Unechtem“ in der Bibel trennen, sondern gerade im scheinbar „Unwahren“ die tiefere Wahrheit erkennen. Viele hat dieser von Bultmann vorgeschlagene Filter der „existentialen Interpretation“ damals überzeugt. Und heute wird er vor allem in den Reihen derer wieder ausgegraben, deren Väter und Großväter noch mit Feuereifer gegen das Programm der Entmythologisierung zu Felde zogen.

Nun ist es für mich als kritisch denkendem Menschen zwar durchaus nachvollziehbar, dass auch eine Erzählung wie die vom Rotkäppchen oder „Der Herr der Ringe“ viel existentielle Wahrheit enthalten kann. Dennoch gibt es für mich einen Unterschied zwischen der existentiellen Wahrheit, die im „Rotkäppchen“ steckt, und der existentiellen Wahrheit, die sich etwa im Ausbruch des zweiten Weltkriegs oder in der Öffnung der Berliner Mauer zeigt. Die Wahrheit von Erfundenem ist etwas anders als die Wahrheit von Geschehenem. Und daher erscheint mir der Vorschlag von Rudolf Bultmann an dieser Stelle eher wie ein Ausweichen vor dem Problem. Fraglos ist, dass auch erfundene Geschichten wahr sein können. Aber damit ist die Frage eben nicht beantwortet, ob wir es in der Bibel denn mit erfundenen oder mit tatsächlichen Geschichten zu tun haben.

Aber hier beginnt nun wieder die Vertrauensfrage: Denn ob ein in der Bibel berichtetes Ereignis erfunden oder tatsächlich  geschehen ist, das lässt sich nun einmal mit Methoden der Wissenschaft weder zweifelsfrei beweisen noch zweifelsfrei widerlegen. Wie bei allen historischen Ereignissen haben wir es immer nur mit Wahrscheinlichkeiten zu tun: Manche Ereignisse der Geschichte sind sehr gut und vertrauenswürdig bezeugt, von anderen wissen wir nur vom Hörensagen, durch zweifelhafte Quellen oder unzuverlässige Zeugen. Es ist Aufgabe des Forschers, die Quellen und Zeugen zu befragen und sich daraus ein möglichst zuverlässiges Bild zu erstellen. Dabei muss er nicht nur genau hinhören, was die Zeugen sagen und was nicht, sondern er muss auch abwägen, wie zuverlässig und vertrauenswürdig die Zeugen sind.  Und damit sind wir erneut bei der Vertrauensfrage.

Wem kann ich vertrauen?

Meine Geschwister auf der einen Seite sagen mir nun: „Es steht doch außer Frage, dass du der Bibel vertrauen kannst, denn sie sagt es ja selbst.“ Diese Logik ist für mich noch nie wirklich nach­vollziehbar gewesen. In einem Gerichtsverfahren kann es doch nicht als Erweis der Glaub­würdigkeit gelten, dass ein Zeuge seine eigene Glaubwürdigkeit beteuert. Einem solchen Zeugen nur auf sein Wort hin zu vertrauen, wäre ein blindes und ein unbegründetes Vertrauen. Im Blick auf die Bibel wäre mir das zu wenig. Auch der Koran behauptet schließlich, Gottes unfehlbares Wort zu sein. Das allein begründet aber noch nicht, dass es tatsächlich auch so ist. Im Gegenteil: Da der Koran zentrale Aussagen der Bibel wie etwa den Tod und die Auferstehung Jesu für Irrtümer erklärt, stehen hier zwei Wahrheitsansprüche nebeneinander, die sich gegenseitig ausschließen. Nur einer von beiden kann wirklich Gottes Reden sein. Die Tatsache, dass die Bibel selbst von sich behauptet, glaubwürdig und wahr zu sein, hilft mir also an dieser Stelle nicht weiter. Hier liegt der Kernfehler einer „unkritischen“ Bibelauslegung, die von der Fehlerlosigkeit der Schrift nur allein deswegen überzeugt ist, weil die Schrift selbst es (vermeintlich) sagt. Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen hängt aber nicht nur an dem, was er selbst behauptet. Sie zeigt sich an anderen Beobachtungen: Etwa in der Frage, ob seine Aussagen konsistent und stimmig sind. Ob sie auch durch andere Zeugen bestätigt werden. Ob sie sich als tragfähig erweisen. Ob seine Persönlichkeit und sein Charakter den Eindruck der Glaubwürdigkeit erwecken. Das alles sind aber nie „wasserdichte“ Beweise, sondern Beobachtungen, die entweder das Vertrauen wecken oder das Vertrauen erschüttern. In ähnlicher Weise glaube ich, dass die Glaubwürdigkeit der Bibel sich zwar nicht wasserdicht beweisen, wohl aber durch genaues Hinschauen gut begründen lässt.

Auf der anderen Seite aber stehen die, die mir sagen: „Natürlich kannst du der Bibel nicht vertrauen. Denn die Wissenschaft hat doch nachgewiesen, dass sie unglaubwürdig ist“. An dieser Stelle jedoch würde ich gerne ein wenig zur Entmythologisierung beitragen, und zwar zur Entmythologisierung der Bibelwissenschaft. Die ist nämlich meiner Erfahrung nach gar nicht so allmächtig, wie es meine wohlmeinenden Geschwister auf der einen wie auf der anderen Seite annehmen: Weder ist sie so mächtig, dass man Angst vor ihr haben müsste, noch ist sie so mächtig, dass man sein Heil in ihr finden könnte. Es ist ein Mythos, dass wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel unweigerlich zu einem Vertrauensverlust führen muss. Es ist ein Mythos, dass die wissenschaftliche Bibelforschung sichere Beweise für die Fehlerhaftigkeit oder Unzuverlässigkeit der Bibel erbracht hätte oder unbedingt erbringen will. Ganz im Gegenteil: In mir ist nach langen Jahren des Studiums und der Forschung das Grundvertrauen in die Bibel mehr und mehr gewachsen. Weil sich mit jedem Spatenstich, den ich gemacht habe, deutlicher zeigte, dass ich bei der Bibel nicht auf losem Sand oder dünnem Eis, sondern auf festem Grund stehe.

Mein Weg mit der Bibel

Im Gespräch mit Glaubensgeschwistern fällt mir immer öfter auf, dass mein Weg mit der Bibel ein anderer war als der der meisten Christen um mich herum: Ich bin nicht in einem Umfeld aufgewachsen, in der ein unerschütterlicher und dogmatisch fixierter Glaube an die Fehlerlosigkeit der Bibel verbreitet war. Natürlich, als Kind war für mich jede Geschichte meiner Kinderbibel ebenso real wie die von Peter Pan oder Winnetou. Das hat aber wenig mit Dogmatik, sondern eher mit Entwicklungspsychologie zu tun. Im Jugendalter habe ich dann nicht nur eine persönliche Bekehrung erlebt, sondern auch gleichzeitig angefangen, kritische Fragen zu stellen. Dabei standen im (inzwischen freikirchlichen) Gemeindealltag eher die inhaltlichen und lebenspraktischen Fragen im Vordergrund: Was ist die Botschaft des Evangeliums und wie können wir so leben, wie Jesus es will, sowohl in unseren persönlichen Beziehungen als auch im Blick auf Umweltzerstörung und Atomwaffen? Da stellte sich die Frage der Glaubwürdigkeit nicht, weil mir die Worte von Jesus durch ihren Inhalt unmittelbar plausibel erschienen. Und zwar interessanterweise sowohl da, wo sie gesellschaftliche Trends bestätigten, als auch da, wo sie solchen Trends völlig entgegenliefen. Wieder ein Punkt, wo ich lernte, der Bibel zu vertrauen: Egal ob sie für oder gegen den Trend sprach.

In der Schule lernte ich in dieser Zeit die kondensierten Ergebnisse der modernen Bibelwissenschaft kennen. Natürlich mit der üblichen Zeitverzögerung: Denn in Schulbüchern landet ja erfahrungsgemäß immer das, was etwa 20 Jahre vorher der aktuelle Stand der Forschung ist. Aber das wussten wir natürlich damals noch nicht. Ich persönlich fand alles, was ich dort hörte, erst einmal plausibel und hochinteressant. Einen Konflikt mit meinem Glauben habe ich nicht empfunden. Auch von meiner Gemeinde aus gab es keinen Zwang, mich den Ideen zu verschließen oder zu widersetzen, die ich in der Schule lernte. Warum soll Gott nicht durch Autoren mit dem klangvollen Namen J, E, P und D genau so reden können wie durch einen Mose? Und die Frage, ob man Wundergeschichten glaubt oder nicht, schien für mich schon damals keine Frage der Bibelwissenschaft, sondern eher eine Frage der Weltanschauung zu sein. Kurzum: Ich habe nie die Angst oder Ablehnung gegenüber moderner Bibelforschung erlebt, die ich später aus den Erzählungen vieler christlicher Zeitgenossen kennengelernt habe. Ich habe all das dankbar und interessiert aufgesogen und bin voller Spannung und Erwartung in das Theologiestudium gegangen, weil ich hoffte, hier noch mehr gesicherte Ergebnisse der Forschung kennenzulernen.

Nochmal Entmythologisierung

Im Studium begann dann jedoch für mich ein ganz anderer Prozess der „Entmytho­logisierung“: Nach und nach wurde mir klar, dass das, was ich in der Schule kompakt und handlich als Ergebnis der modernen Bibelwissenschaft präsentiert bekommen hatte, so verlässlich im Einzelfall gar nicht war: Zu jeder wichtigen Frage der Bibelwissenschaft bekamen wir  einen kleinen Überblick über 200 Jahre Forschungsgeschichte, innerhalb derer sich die unterschiedlichsten Theorien und Hypothesen abwechselten, überschlugen und nicht selten gegenseitig widersprachen.

Im Religionsunterricht etwa hatte ich gelernt, dass große Teile der Abrahams- und Mosererzählung aus der Quelle eines Autors mit dem Namen „J“ (für „Jahwist“) stammten. Wir waren sogar in der Lage, einzelne Sätze und Worte aus der Moseerzählung der Hand dieses Jahwisten zuzuordnen. Im Studium erfuhr ich jetzt aber, dass unter Forschern kaum Einigkeit bestand, ob dieser Jahwist überhaupt jemals existierte. Manche Forscher gingen sogar so weit, insgesamt 13 verschiedene „Jahwisten“ (J1 bis J13) in den biblischen Berichten zu entdecken. Heute ist man dagegen wieder ganz von solchen Benennungen abgekommen.

Ähnlich kompliziert verhielt es sich mit der verbreiteten „Zwei-Quellen-Hypothese“, die sich bis heute in den Lehrbüchern als einfache Erklärung für die Entstehung der Evangelien findet. Sie ist zwar für den täglichen Gebrauch sehr praktisch, aber bei näherer Betrachtung zerrinnt auch diese Hypothese zwischen den Fingern: Im Jahr 1918 gab es bereits 17 unterschiedliche Rekonstruktionen der Quelle „Q“. Aber keinen einzigen Vers mehr, der in allen 17 Versionen enthalten war. Heute gibt es in der Forschung die verschiedensten Erklärungen für die Entstehung der Evangelien, und viele davon kommen inzwischen ganz ohne eine Quelle „Q“ aus.

So lernten wir die unterschiedlichsten Argumente und Gründe für die verschiedenen Hypothesen kennen, aber kamen oft auch zu der ernüchternden Einsicht, dass Mehrheitsmeinungen immer auch dem jeweiligen Trend der Zeit folgen: Natürlich lehrte man im 19. Jahrhundert anders über das Judentum als in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Und heute lehrt man wieder ganz anders. Im Unterschied zur Naturwissenschaft, wo man Ergebnisse durch nachprüfbare Versuchsanordnungen und logische Beweisführung begründen muss und auch jederzeit wiederholen kann, zählt in der Theologie eine Mischung aus Sachargumenten, persönlicher Überzeugungskraft und soziokulturellen Trends. Und Mehrheiten bilden sich oft ebenso wechselhaft und überraschend wie im politischen Wahlkampf. Das ist ja an sich nicht schlimm und gehört zum Wesen der freien Forschung wie zum Wesen der Demokratie. Aber es zeigt eben auch, dass die oft zitierten „gesicherten Ergebnisse der Bibelforschung“ alles andere als sicher sind. Sie sind aktuelle Momentaufnahmen von Mehrheitsmeinungen. Sie können mehr oder weniger überzeugend sein. Aber eine verlässliche Grundlage für den Glauben können sie kaum bieten. Insofern wurde durch mein Theologiestudium weniger mein Vertrauen in die Bibel als vielmehr mein Vertrauen in die gesicherten Ergebnisse der Bibelforschung erschüttert

Gestärktes Vertrauen

Gleichzeitig wurde aber mein Vertrauen in die Bibel durch die Bibelwissenschaft mehr und mehr gestärkt: Immer wieder habe ich es erlebt, dass da, wo ich wirklich in die Tiefe gebohrt habe, nicht etwa dünnes Eis, sondern fester Grund zu finden war. Immer wieder zeigte die Beschäftigung mit der Forschungsgeschichte, wie der Weg von anfäng­licher Skepsis zu schlussendlichem Zutrauen führte. So lernte ich, dass man in der Frühzeit der Bibelforschung die Entstehungszeit der Evangelien teilweise bis ins späte 2. Jahrhundert n.Chr. datierte und dass einzelne Bibelforscher die Historizität Jesu mit Mitteln der Bibelwissenschaft gänzlich in Frage stellten. Heute ist man davon weit entfernt. Niemand würde mehr bezweifeln, dass Jesus gelebt hat, und die Entstehung der Evangelien wird in die Jahre 70-100 n.Chr. Datiert (siehe Exkurs 1: Verlässliche Zeugen). Das stärkt mein Vertrauen in den Inhalt der Evangelien. Und die schon oben beschrieben zunehmenden Zweifel an der verbreiteten „Zwei-Quellen-Hypothese“ wecken in mir die Frage, ob es nicht doch besser ist, den Nachrichten der alten Kirchenväter zu vertrauen: Für sie war nicht eine verlorengegangene Quelle „Q“, sondern das Matthäusevangelium das älteste Evangelium und damit eine zuverlässige und frühe Quelle für das Leben Jesu.

Eine andere Frage ist etwa die nach der Intention der Evangelisten: Noch Rudolf Bultmann ging in seinem Jesus-Buch 1926 davon aus, dass die Evangelien als historische Quellen über Jesus nicht zu gebrauchen seien, weil sie nicht Geschichte schreiben, sondern nur Glauben verkündigen wollten. Diese Annahme wurde aber schon von den Schülern Bultmanns selbst in Frage gestellt. Heute spricht man von der „dritten Suche“ nach dem historischen Jesus, bei der die Evangelien wieder ganz selbstverständlich, wenn auch kritisch, als Quelle für historische Forschung genutzt werden.

Blicken wir kurz ins Alte Testament: Wurden Abraham, Isaak und Jakob noch in der Frühzeit der Forschung für Märchengestalten oder für altbabylonische Sternbilder gehalten, so geht die Mehrheit der Forscher heute fast durchgängig davon aus, dass die Erzählungen – wenn auch nicht im Detail – auf tatsächliche Personen zurückgehen. Ähnliche Entwicklungen von einer übertriebenen Skepsis zu einem wachsenden Vertrauen lassen sich etwa auch im Blick auf die Eroberung Kanaans durch Israel oder das Königtum Davids feststellen: Auch hier hielt man die Berichte noch vor einiger Zeit für reine Erfindungen. Aber mit dem Lauf der Jahre kommen immer mehr archäologische Details zum Vorschein, die auch kritischen Forschern zumindest die Grundlinien der biblischen Erzählung wieder zuverlässiger erscheinen lassen (siehe Eskurs 2: Außerbiblische Bestätigung]. Für mich stärken solche Entwicklungen das Vertrauen, dass auch in anderen Streitfragen der weitere Lauf der Geschichte noch spannende Antworten erbringen wird.

Historisch und kritisch

In meiner Studienzeit habe ich auch den tiefen Graben kennengelernt, der sich zwischen den Gegnern und den Befürwortern der so genannten „historisch-kritischen Methode“ auftat. Besonders in Marburg wurde an dieser Front heiß gekämpft. Ich persönlich muss zugeben, dass ich den Streit nie richtig verstanden habe. Mein Eindruck war immer, dass hier zwei Ebenen vermischt wurden, die man eigentlich auseinanderhalten sollte: Die Ebene der Methoden und die Ebene der Ergebnisse. Auf der Ebene der Methode schien es mir immer das Natürlichste von der Welt zu sein, dass man im Umgang mit der Bibel sowohl historisch als auch kritisch arbeitet: Historisch forschen heißt, solche Fragen zu stellen wie: Wann ist dieses Ereignis geschehen? Was wissen wir über diese Zeit und ihre Kultur? Wann ist dieser Text aufgeschrieben worden? Von wem? Und was wissen wir über die zeitgeschichtliche Situation des Autors? Das alles scheinen mir ganz selbstverständliche Fragen zu sein. Und ehrlich gesagt, werden sie auch bei denen gestellt, die die „historisch-kritische Methode“ ablehnen. An der Stelle gibt es also keinen Meinungsstreit.

Und die Kritik? Ich habe sie immer so verstanden, dass es darum geht, kritisch zu prüfen, ob das, was ich über die Bibel glaube, sich auch wirklich darin findet. Kritisch zu sein gegenüber eigenen Vorurteilen, gegenüber scheinbar biblischen Überzeugungen, die aber gar nicht aus der Bibel stammen. Aber auch: Kritisch zu unterscheiden zwischen dem Text, seiner Vorgeschichte, und dem historischen Ereignis, von dem er berichtet. Soweit wir das denn können. Und auch hier sehe ich eigentlich keinen Disput mit denen, die die Methode ablehnen.

Methoden, Ergebnisse und Vorurteile

Auf der Ebene der Methode bin ich also fest davon überzeugt, dass wir als Christen mit der Bibel sowohl historisch als auch kritisch umgehen sollten. Auf der Ebene der Ergebnisse aber halte ich in der Tat vieles für fraglich, was diese Methode in der Vergangenheit hervor­gebracht hat: Etwa die vielen Hypothesen über Autoren und Entstehungszeiten biblischer Bücher, die teilweise abenteuerliche Blüten trieben und sich bis heute laufend wandeln. Das ist aber für mich keine Frage des Glaubens, sondern der wissenschaftlichen Diskussion. So wird meine Skepsis gegenüber manchen Ergebnissen der modernen Forschung auch von vielen geteilt, die meinen christlichen Glauben nicht teilen. Man sollte also an dieser Stelle aus einem wissen­schaft­lichen Disput keinen Glaubenskampf machen. Ob eine Behauptung der Bibelforschung richtig oder falsch, tragfähig oder überholt ist, ist keine Frage der Rechtgläubigkeit, sondern der plausiblen Begründung und der sauberen wissenschaftlichen Arbeit.

Skeptisch bin ich auch gegenüber ideologisch begründeten Vor-Urteilen, die der wissenschaftlichen Arbeit vorausgehen: Wenn etwa die Tatsächlichkeit von Wunderberichten allein schon deshalb in Frage gestellt wird, weil man als moderner Mensch nicht mehr an Wunder glauben kann, so ist das weder eine historische noch eine kritische Methode, sondern eine Glaubensaussage. Als solche kann ich sie akzeptieren. Als Grundlage für eine wissenschaftliche Erforschung der Bibel aber nicht.

Es ist daher auch sicher kein Zufall, dass einige namhafte Vertreter der wissenschaftlichen Bibelforschung, wie etwa jüngst die neutestamentlichen Professoren Ulrich Wilckens („Kritik der Bibelkritik“) und Klaus Berger („Die Bibelfälscher“), am Ende ihres Lebens kritisch Rückschau halten auf die Ergebnisse, die ihre Zunft hervorgebracht hat, und danach fragen, ob sie mehr Schaden oder mehr Nutzen angerichtet haben. Beide stehen nicht in Verdacht, aus einer besonders bibeltreuen oder fundamentalistischen Tradition zu kommen. Und beide befürworten nachdrücklich historisches und kritisches Forschen an der Bibel. Aber beide stellen dennoch viele Grundannahmen und viele vermeintlich sichere Ergebnisse in Frage, die diese Forschung im Lauf der Zeit hervorgebracht hat.

Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?

Schon am Anfang meines Studiums bin ich von vielen Mitchristen gefragt worden, ob ich nicht Angst hätte, meinen Glauben zu verlieren durch die Bibelwissenschaft. Das hatte ich eigentlich nicht. Und wie gesagt, ist mein Vertrauen in die Bibel auch eher gestärkt worden. Aber in der Tat habe ich auch enorm viele Menschen um mich herum erlebt, die sich im Lauf ihres Studiums, und angestoßen durch die wissenschaftliche Bibelforschung, von ihrem Glauben abgewendet haben. Noch größer allerdings war die Zahl derer, die ihren Glauben nach eigenen Angaben nicht verloren, wohl aber stark verändert haben. Und das ist ja auch grundsätzlich begrüßenswert. Es wäre schade, wenn unser Glaube sich im Laufe des Lebens nicht weiter entwickeln würde.

Dennoch gibt es natürlich Veränderungen zum Besseren und zum Schlechteren. Gut sind Veränderungen da, wo sie uns aus falschen, zu engen oder nicht in der Bibel begründeten Vorstellungen und Prägungen herausführen. Unter Theologen habe ich jedoch leider oft eine gewisse Arroganz erlebt, die automatisch davon ausging, dass nur solche Veränderungen, die auch mit weniger Vertrauen in die Bibel, weniger Bindung an eine Gemeinde, weniger missionarischem Engagement und gelockerten ethischen Überzeugungen einherging, wirklich eine gesunde und redliche Glaubensveränderung sei. So, also ob es ein automatischer Bestandteil einer natürlichen Glaubensentwicklung ist, sich von traditionellen Kernüberzeugungen des christlichen Glaubens oder von seinem bisherigen Gemeindeumfeld abzuwenden.

Meiner Beobachtung nach war es aber oft gar nicht die Bibelwissenschaft an sich, die dem Glauben geschadet hat. Sondern es waren persönliche Lebensumstände und Lebensentscheidungen, die Menschen dazu gebracht haben, einen anderen Lebensweg einzuschlagen. Die Bibelwissenschaft war dann aber oft ein willkommenes Hilfsmittel, sich von denjenigen Aussagen und Überzeugungen der Bibel zu lösen, die dem neu gewählten Lebensweg im Wege standen. Aus der Fülle der unterschiedlichen wissenschaftlichen Überzeugungen ist es schließlich immer möglich, eine zu finden, die die eigenen Lebensentscheidungen unterstützt und rechtfertigt. Insofern schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben zwar nicht notwendigerweise, aber sie kann oft ein hilfreiches Instrument sein, die ohnehin gewählte Abwendung vom Glauben oder von bisherigen Glaubensüberzeugungen wissenschaftlich  zu begründen. Und denen, die anders denken, dann einfach zuzurufen, sie seien eben wissenschaftlich nicht gut genug informiert oder lebensgeschichtlich noch nicht weit genug entwickelt.

Fragen bleiben

Zurück zum Anfang: Für mich ist das Vertrauen in die Bibel kein blinder Schritt des Glaubens, den ich tun müsste, bevor ich die Bibel aufschlage oder bevor ich mich wissenschaftlich mit ihr beschäftige. So klingt für mich manchmal die Forderung eines allzu „bibeltreuen“ Schriftverständnisses. Nein, für mich ist das Vertrauen keine Vorbedingung, sondern ein Ergebnis meiner Beschäftigung mit der Bibel: Weil sich die Bibel mir als vertrauenswürdig erweist, kann ich ihr vertrauen. Ich vertraue darauf, dass die Bibel Überzeugungskraft hat, selbst dann, wenn ich sie mit den Augen eines Atheisten, eines muslimischen, buddhistischen oder jüdischen Lesers lese. Deshalb möchte ich in der Bibelforschung auch nur solche Methoden anwenden, die für meine Nachbarn anderen Glaubens nachvollziehbar und plausibel sind, und keine christlichen Sondermethoden oder dogmatischen Vorbedingungen gelten lassen. Hier liegt für mich auch der tiefere missionarische Sinn einer wissenschaftlichen, historisch-kritischen Auseinandersetzung mit der Bibel.

Der Bibel vertrauen – das heißt für mich aber auch, dass ich nicht vorschnell über „Fehler“ in der Bibel urteilen will. Das geht manchen Leuten sehr leicht und glatt von der Hand. Und wer will, wird mir ohne viel Suchen eine oder mehrere Aussagen der Bibel vorhalten können, die offensichtlich falsch sind oder im Widerspruch zu anderen Aussagen der Bibel stehen. Vertrauen heißt für mich dann aber – wie in jeder menschlichen Beziehung –, dass ich solche offen­sichtlichen Vertrauenshindernisse zunächst einmal wahrnehme und anhöre, ohne aber deshalb mein Vertrauensverhältnis gleich aufzukündigen. Und dann blicke ich auf meinen bisherigen Weg mit der Bibel zurück: Ich entdecke zunächst, dass an ganz vielen Punkten, wo ich an der Oberfläche einen Fehler oder Widerspruch zu entdecken glaubte, dieser sich bei näherem Hinsehen als Scheinproblem entpuppte.

An vielen anderen Punkten muss ich aber auch erst einmal zurückfragen: Habe ich den Text denn wirklich richtig verstanden? Mein Vertrauen in die Bibel bezieht sich ja auf das, was sie wirklich sagen will, und nicht auf das, was ich zu hören meine. So wäre es ein Fehler, wenn ich poetische Texte wie die Psalmen naturwissenschaftlich deuten wollte, etwa die Aussage, dass der Wind Flügel hat (Psalm 104,3). Ich muss also erst einmal wirklich hinhören, was der Text wirklich sagen will, bevor ich über seine Wahrheit ein Urteil fälle. Hier liegt dann der Fehler allzu oft nicht bei der Bibel, sondern bei uns selbst.

Aber dann gibt es natürlich auch solche Texte, die mir auch beim besten Willen nicht verständlich werden, so viel ich sie auch drehe und wende.  Die kann ich nur fragend im Gebet zu Gott zurücktragen. Und ihm mein Vertrauen hinhalten, das sich auch auf diese dunklen Stellen erstreckt. In der Hoffnung, dass Gott eines Tages sein Licht darauf scheinen lässt.

Ist diese Antwort wasserdicht? Nein. Ist sie angreifbar? Ja. So ist das mit dem Vertrauen. Vertrauen heißt nicht Sicherheit. Vertrauen heißt auch nicht Allwissenheit. Aber Vertrauen heißt, dass ich zuversichtlich bin, dass mir in der Bibel Gott begegnet. Nicht nur in den Teilen, die mir gefallen oder die es durch meinen theologischen Filter schaffen. Sondern in der ganzen Bibel. Vertrauen heißt, dass ich aufmerksam hinschaue und hinhöre, was die Bibel mir sagen will. Dazu gehört eine ehrliche, historisch und kritische Auseinandersetzung mit dem Text, seiner Geschichte, seiner Umwelt und seiner Aussage. Aber Vertrauen heißt auch, dass ich der Bibel in einer Grundeinstellung der Demut entgegentrete: Weil sie sich mir als vertrauenswürdig erwiesen hat, lasse ich mich von ihr prägen, leiten – und auch in Frage stellen. Und nicht zuletzt finde ich mich mit meinem Vertrauen in die Bibel auch in guter Gesellschaft. Denn vom Apostel Paulus wird berichtet, er habe von sich gesagt (Apostelgeschichte 24,14 lü):

„Das bekenne ich dir aber, dass ich nach dem Weg, den sie eine Sekte nennen, dem Gott meiner Väter so diene, dass ich allem glaube, was geschrieben steht im Gesetz und in den Propheten.“

Exkurse

Exkurs 1: Zuverlässige Zeugen

Man muss nicht daran glauben, dass die Bibel mit ihrem Wortlaut vom Himmel gefallen ist, um ihr zu vertrauen. Auch ganz nüchtern historisch betrachtet haben wir es beim Neuen Testament im Vergleich zu anderen Texten der Antike mit erstaunlich zuverlässigen Zeugen zu tun. Die vier Evangelien enthalten zwar keine Verfasserangaben. Aber nach Überlieferungen verschiedener Kirchenväter aus den ersten Jahrhunderten wurden das Matthäus- und das Johannesevangelium von Jüngern Jesu verfasst, also von Augenzeugen. Der Verfasser des Markusevangeliums sei ein enger Vertrauter des Petrus gewesen und Lukas ein Reisebegleiter des Paulus. Mindestens drei der Evangelien seien noch zu Lebzeiten des Petrus geschrieben worden, also weniger als 35 Jahre nach dem Tod Jesu. Die moderne Bibelforschung hält diese Angaben der Kirchenväter zwar für unzuverlässig und bestreitet, dass die Autoren der Evangelien tatsächlich Augenzeugen waren. Aber selbst nach den skeptischsten Annahmen der Forschung wird die Entstehungszeit der Evangelien heute auf einen Zeitraum von höchstens 40-70 Jahren nach dem Tod Jesu datiert. Für antike Verhältnisse ist das immer noch ein sehr kurzer Abstand. Zum Vergleich: Einzelheiten über die Ermordung Caesars (44 v.Chr.) wissen wir nur aus den Berichten des Historikers Tacitus, der mehr als 150 Jahre später schrieb.

Hinzu kommt, dass auch die moderne Forschung davon ausgeht, dass ein eng gestricktes Netz von mündlichen Überlieferungen und älteren schriftlichen Sammlungen den Zeitraum zwischen 30 und 70 n.Chr. überbrückt. Eine zuverlässige Weitergabe der Informationen und Worte ist also in jedem Fall gegeben. Inhaltlich weisen die Evangelien eine sehr detaillierte Kenntnis der geographischen, kulturellen und religiösen Gegebenheiten in Israel auf. Sprachlich zeigen viele Worte Jesu noch Spuren hebräischer und aramäischer Sprache, obwohl sie in Griechisch verfasst wurden. Dass es nicht nur einen, sondern gleich vier verschiedene Berichte über das Leben Jesu gibt, steigert den Wert der Informationen noch einmal. Und selbst die Tatsache, dass sich diese Berichte in vielen Einzelheiten deutlich widersprechen, ist eher ein Argument für ihre Glaubwürdigkeit: Denn es zeigt, dass hier weder künstlich geglättet wurde noch, wie im Fall des Koran, ein direktes Diktat aus dem Himmel behauptet wird. Stattdessen haben wir Zeugenaussagen unterschiedlicher Herkunft, die sich sogar eine gewisse erzählerische Freiheit nehmen, aber dafür im Kernbestand ihrer Aussagen umso deutlicher übereinstimmen. Das macht die Berichte menschlich und real, und dennoch gerade deshalb für mich sehr glaubwürdig.

Auch die Briefe des Paulus sind ein Glücksfall für den Geschichtsforscher: Es gibt kaum antike Dokumente mit vergleichbarem historischen Wert. Denn wir haben zwar viele literarische „Kunstbriefe“ von Schriftstellern und Philosophen. Die Paulusbriefe unterscheiden sich aber von ihnen, weil sie eben nicht literarische Werke, sondern echte Gelegenheitsschreiben sind und eigentlich gar nicht für die Nachwelt bestimmt waren. Das macht sie in den Augen eines Historikers viel authentischer, natürlicher und glaubwürdiger. Auf der anderen Seite sind uns zwar auch viele antike Gelegenheitsschreiben bekannt, teilweise sogar noch im Originaltext: Diese enthalten jedoch meistens nur kurze nebensächliche Notizen, Kaufbelege,  Bestellungen oder Grußworte. Sehr selten sind dagegen ausführliche Briefe mit tiefen Einblicken in das Denken und das persönliche Leben der Autoren. Auch hier stechen die Briefe des Neuen Testaments deutlich heraus unter den sonstigen Schriften der antiken Welt: Sie geben uns einen unverfälschten und zugleich tiefen und authentischen Einblick in die Welt der ersten Christen.

Exkurs 2: Außerbiblische Belege

Die archäologische Forschung der Neuzeit hat in vielen Fällen überraschende Funde zu Tage gefördert, die Einzelheiten aus biblischen Berichten bestätigen: Dass man die Namen berühmter Persönlichkeiten wie Pontius Pilatus oder dem jüdischen Hohepriester Kaiphas auch auf zeitgenössischen Inschriften fand, ist dabei noch wenig spektakulär, ebenso wie die Tatsache, dass viele biblische Orte, Namen und Ereignisse auch in Inschriften von baby­lonischen, ägyptischen und assyrischen Königen beschrieben werden. Spannender wird es aber, wenn es um scheinbar nebensächliche Details geht: So bestätigt die 1941 entdeckte Grabinschrift eines „Alexander, Sohn des Simon, Simon aus Kyrene“ in eindrücklicher Weise die Existenz einer scheinbar unwichtigen Person aus Markus 15,21. Ebenso erstaunlich ist der Fund zweier Siegel mit den Namen „Gedalja ben Paschhur“ und „Juchal ben Schelemja“ aus den Jahren 2005 und 2008: Beide Namen werden in Jeremia 38,1 als Beamte des Königs Zedekia erwähnt. Und ihre Siegel wurden tatsächlich auch in unmittelbarer Nähe des alten Königspalastes von Jerusalem entdeckt.

Das Verhältnis zwischen Bibelforschern und Archäologen ist seit jeher von einer gewissen Hassliebe geprägt: Auf der einen Seite stehen die, die durch archäologische Funde nachweisen wollen, dass die Bibel „doch Recht hat“, wie es ein populäres Buch betitelte. Auf der anderen Seite die, die anhand archäologischer Funde die Bibel radikal in Frage stellen. Beide Seiten trauen der Archäologie dabei meines Erachtens zu viel zu: Archäologische Funde können zwar einzelne Details der Bibel näher beleuchten oder bestätigen, aber niemals einen wasserdichten Beweis für ihre Unfehlbarkeit liefern. Auf der anderen Seite hat sich jedoch in vielen Fällen auch die radikale Skepsis mancher Pioniere der Archäologie durch immer neue Funde als grundlos erwiesen.

Die vergebliche Suche nach der biblischen Stadt Ai (Jos 7,2) etwa galt lange Zeit als Beweis für die Unglaubwürdigkeit der Bibel: Der amerikanische Bibelforscher Edward Robinson war bereits 1838 von Beduinen zu einem Hügel geführt worden, den die lokale Bevölkerung mit der Geschichte von Ai verband: Khirbet el-Maqatir. Er fand dort aber nur Reste einer alten Kirche, keine biblische Stadt. Auf einem benachbarten Hügel dagegen wurde er tatsächlich fündig: Hier glaubte er nun das alte Ai gefunden zu haben. Das Problem war nur: Diese Stadt lag schon Jahrhunderte lang in Schutt und Asche, bevor die Israeliten unter Josua das Land betraten. Der biblische Bericht schien damit klar widerlegt. Neuere Ausgrabungen auf dem ursprünglichen Hügel von Khirbet el-Maqatir haben jedoch inzwischen die Reste einer kanaanäischen Stadt genau dort zu Tage gefördert, wo schon 1838 die Beduinen das biblische Ai identifizierten. Im Jahr 2015 fand sich sogar eine erste Brandspur, die aus der Zeit Josuas stammt. Hätte Edward Robinson damals nur 200 Meter südlich der alten Kirche gegraben, wäre der Wissenschaft vielleicht ein langer Streit erspart geblieben.

Ähnlich verhält es sich mit der Frage nach dem Königreich Davids: Etliche Historiker hatten dessen Existenz noch in den 80er- und 90er-Jahren für eine späte literarische Erfindung des 3. Jahrhunderts v.Chr. gehalten. Auch diese Skepsis ist jedoch inzwischen archäologischen Fakten gewichen: 1993 wurde in Tel Dan an der Nordgrenze Israels eine Inschrift aus dem 9. Jahrhundert v.Chr. entdeckt, die das Königshaus Davids erstmalig urkundlich erwähnt. Bei Ausgrabungen in Jerusalem wurden 2005 monumentale Gebäudestrukturen freigelegt, die heute als Palast Davids gedeutet werden. Und 2008 wurde in Khribet Qeiyafa, an der Grenze zum ehemaligen Philisterland, eine bedeutende Grenzstadt aus der Zeit Davids entdeckt, die ein weiterer Beleg für die große Ausdehnung seines Königreichs ist. Die Idee vom „Mythos König David“ ist damit erst einmal vom Tisch.

Für mich zeigt sich: Archäologische Funde können die Wahrheit der Bibel zwar nicht beweisen, aber doch viele biblische Einzelheiten eindrucksvoll bestätigen und damit das Vertrauen stärken. Und manche radikale Kritik skeptischer Forscher erweist sich bei näherem Hinsehen dann doch als übertrieben oder unbegründet. Zwar bleiben auch heute immer noch viele Fragen und Unstimmigkeiten, die man gar nicht leugnen muss. Aber der Verlauf der Forschungsgeschichte macht mich zuversichtlich, dass sich viele dieser Fragen durch weitere Entdeckungen in der Zukunft gut und verlässlich klären lassen.

Exkurs 3: Ehrliche Berichte

Die biblischen Berichte erscheinen mir auch deshalb als glaubwürdig, weil sie so ehrlich und schonungslos von den Schwächen ihrer Helden berichten: Dazu gehören die Betrügereien von Abraham und Jakob ebenso wie Mord und Ehebruch des Königs David oder die Feigheit des Petrus bei der Gefangennahme Jesu. In antikem Umfeld ist eine solche Ehrlichkeit recht ungewöhnlich: Die Königsannalen der Babylonier, Assyrer und Ägypter etwa zählen für gewöhnlich nur Siege und Wohltaten der Herrscher auf. Niederlagen werden kunstvoll umschrieben, wie etwa die erfolglose Belagerung Jerusalems (Jes 36–37): Hier berichten die Annalen des Königs Sanherib, die man auf verschiedenen Inschriftentafeln fand, zwar von der Belagerung, aber sie schweigen dann über den erfolglosen Abzug. Stattdessen werden die Tributzahlungen erwähnt, die der judäische König Hiskia später zahlte.

Ganz anders sind die biblischen Berichte über die Könige Israels, die schonungslos von Niederlagen, Fehlern und Schwächen berichten. Ähnliches gilt auch für die Berichte des Neuen Testaments: Hier handelt es sich zwar nicht um Könige und Herrscher, aber doch um die Gründerväter einer neuen Bewegung. Blickt man heute in die Jahrbücher von Missionsgesellschaften oder Jubiläumsbände von Kirchengemeinden, so lesen sich diese ebenfalls sehr anders: Die schönen Erinnerungen und wichtigen Errungenschaften der Altvorderen werden gelobt, Fehler und Missgeschicke werden meist höflich verschwiegen. Diese Form des Respekts finden wir im Neuen Testament kaum.

Und auch eine übertriebene Wundergläubigkeit, wie man sie den Menschen der Antike gern unterstellt, wird bereits durch das Neue Testament selbst in Frage gestellt: So halten die Jünger die Berichte von der Auferstehung zunächst für „Geschwätz“ (Lukas 24,11), und auch die wundersamem Ereignisse am Pfingsttag werden zunächst spöttisch dem Alkohol zugeschrieben (Apostelgeschichte 2,13). Die Autoren fordern von ihren Lesern keinen blinden Glauben, sondern geben sich Mühe, ihre Behauptungen durch die Bestätigung von Augenzeugen zu untermauern (Lukas 1,2; 1. Korinther 15,6; 1. Johannes 1,1). Paulus unterscheidet ganz nüchtern zwischen seinen eigenen Ansichten und den Weisungen Gottes (1. Korinther 7,10-12). All das atmet für mich die Luft des Menschlichen, Nüchternen und Bodenständigen. Und gerade das macht es für mich glaubwürdiger als ein geschönter Heldenbericht. Oder ein Buch, das beansprucht, direkt vom Himmel diktiert zu sein.

Exkurs 4: Geschichte statt Ideen

Ein recht schlichter, aber doch realistischer Grund, der Bibel zu vertrauen, ist: Wir haben als Christen gar keine andere Wahl. Wir glauben an den Gott, von dem Jesus Christus geredet hat. Und dieser Gott ist nun einmal ein Gott der Geschichte. Er zeigt uns, wer er ist, in dem, was er tut. In anderen Religionen mag man Gott vor allem durch innere Eingebung, durch bevollmächtigte Boten oder durch göttliche Schriften zu erkennen versuchen. In der biblischen Tradition kommt das zwar auch vor, aber immer nur ergänzend: Gott zeigt sich vor allem in der Geschichte, in seinen Taten, in seiner Treue zum Volk Israel, und dann endgültig in der Person von Jesus Christus. Über all das erfahren wir nirgends sonst in vergleichbarer Ausführlichkeit, Klarheit und Verlässlichkeit als in der Bibel.

Natürlich gibt es auch in der jüdisch-christlichen Tradition das direkte Reden Gottes: Sei es zu Abraham, zu Moses, zu Paulus oder zu uns heute. Das ist aber immer nur ein ergänzendes, erklärendes Reden: Schon gegenüber Moses gibt sich Gott als der zu erkennen, der sich im Leben von Abraham und Isaak gezeigt hat. Ein Verweis auf die Geschichte also. Auch die Propheten des Alten Testaments verkünden keinen neuen Gott, sondern verweisen auf den Gott der Geschichte Israels. Und die Schriften des Neuen Testaments erzählen davon, wie Gott sich uns in Jesus Christus endgültig gezeigt hat.

Im Mittelpunkt der biblischen Botschaft stehen also nicht Ideen, sondern ein Geschehen. Und zu diesem Geschehen haben wir keinen anderen Zugang als die Berichte und Deutungen der Zeugen, die wir in der Bibel finden. Jeder Versuch, daran vorbei einen Zugang zu Gott zu finden, muss daher letztlich in die Irre führen. Ein Abschied von der Bibel ist am Ende gleichzeitig auch ein Abschied vom Gott der Bibel. Und Glauben an den Gott der Bibel gibt es daher nicht ohne ein Vertrauen in die Bibel.

Gezwungen sind wir dennoch nicht: Denn wir können uns natürlich auch in Freiheit gegen die Bibel entscheiden. Oder nur für die Teile der Bibel, die uns gefallen. Dann aber landen wir am Ende wieder nur bei dem Gott, den wir uns auch selbst ausdenken können. Und nicht bei dem, der sich uns gezeigt hat. Die Wahl haben wir also, aber wir sollten uns wenigstens ehrlich eingestehen, wohin uns die Wahl führt. Ich persönlich halte das Vertrauen in die Bibel für die bessere Wahl.

[i]     Luther ging es um die Unterscheidung, ob ein bestimmtes neutestamentliches Buch als Ganzes „Christum treibet“ oder nicht. Er hatte beim Jakobus- und Judasbrief seine Zweifel. Die von ihm geprägte Formel lautet: „ob sie Christum treiben“ – also die kompletten Schriften –, und nicht: „was Christum treibet“ (also was innerhalb einzelner Bücher der Heiligen Schrift christusgemäß sei und was nicht). Man kann mit Luthers Formulierung wohl einzelne biblische Bücher für nicht christusgemäß halten. Aber man kann sich nicht auf ihn berufen, wenn man innerhalb anerkannter biblischer Bücher nur das herausfiltert, was einem zu Christus zu passen scheint, und anderes verwirft.

Die Entmythologisierung der Bibelwissenschaft: Warum ich lieber der Bibel vertraue
In. Wendel, Ulrich (Hg.): Glaubwürdig aus guten Gründen.
Holzgerlingen: SCM Hänssler Verlag 2017, S. 36-61