Artikel im CVJM-Magazin 2/24

„Dem nachjagen, was dem Frieden dient“

Wenn der Friede zerbricht: Persönliche Erfahrungen und biblische Grundlinien

Ich bin als ein Kind der Friedensbewegung aufgewachsen. Als ich Teenager war, tobten in Deutschland die Debatten um den sogenannten „Nato-Doppelbeschluss“: Die Aufstellung von Hunderten von Atomraketen überall in Europa, auch in Deutschland. Im Kino lief der Film „The Day After“, der ein Horrorszenario von einer Welt nach dem Atomkrieg zeichnete. In der Schule lernten wir allerdings, dass es eine Welt nach einem Atomkrieg gar nicht mehr geben würde. In der damaligen Hauptstadt Bonn fand 1982 die größte Demonstration der deutschen Nachkriegsgeschichte statt: 500.000 Menschen protestierten gegen die Aufstellung der Atomraketen. Sogar meine Oma fuhr hin, um dabeizusein.

Auf meinem ersten Hitparaden-Mixtape (so hieß die Spotify Playlist der 80er) sang der damals schon alte Rocker Udo Lindenberg zusammen mit einem Schuljungen, der nur wenig jünger war als ich, den Song „Wozu sind Kriege da?“, mit lauter ziemlich kitschigen Reimen wie diesem hier:  „Herr Präsident, ich bin jetzt zehn Jahre alt, und ich fürchte mich in diesem Atomraketenwald…“

Die Bibel als Kompass des Friedens

Etwa in der gleichen Zeit kam ich in Kontakt mit der Jugendgruppe einer christlichen Freikirche in unserer Stadt. Ich war bis dahin nicht oft in die Kirche gegangen. Es waren auch kaum Leute in meinem Alter da. Aber hier begegnete mir jetzt eine andere Art zu glauben: Jesus-zentriert, bibel-interessiert und politisch engagiert. Diese Kombi hat mich fasziniert. Und ich blieb dabei. Wir lasen zusammen die Bergpredigt, in der Jesus die besonders beglückwünscht, die Frieden stiften (Mt 5,9). Und in der er dazu einlädt, die Feinde zu lieben (Mt 5,44) und denen die andere Wange hinzuhalten, von denen man geschlagen wird (Mt 5,39). Wir diskutierten darüber, wie man so leben kann in einer Welt, in der jeder von uns (zumindest die Jungs) direkt nach der Schule in die Armee eingezogen wurde. Und nach der Bibelarbeit sangen wir zur Gitarre Lobpreislieder, Glaubenslieder und Friedenslieder. Zum Beispiel „Freunde, dass der Mandelzweig…“, aus der Feder des jüdischen Gelehrten Schalom ben Chorin. Wir druckten unsere eigenen Aufkleber mit dem Friedenstauben-Symbol oder dem biblischen Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“ (Micha 4,3) und sangen auf den Kirchentagen mit Tausenden anderen im Sprechchor das Gebet: „Frieden, Frieden, gib uns deinen Frieden“

Ein vergessener oder ein zebrochener Traum?

Warum hole ich hier so alte Kamellen aus der Schublade? Weil sich seitdem viel geändert hat: Zum einen ist es still geworden um die Friedensbewegung. In der Gesellschaft, aber auch in den christlichen Gemeinden. In den Neunzigern übernahmen Techno und Dance in den Charts, und Worshipmusik in den Gemeinden. Feiern war angesagt, nicht protestieren. Die Mauer in Berlin fiel, dann auch der sogenannte eiserne Vorhang. Atomraketen wurden abgerüstet und verschrottet. Frieden war kein Thema mehr, wir hatten ihn ja. Dass überall auf der Welt weiterhin Menschen in Kriegen starben, hat uns nicht so interessiert. Die Bibelstunden wurden zunehmend unpolitischer. Und Christen, die sich politisch engagierten, wurden zunehmend bibelkritischer. Die selbstverständliche Verbindung von Bibel Lesen und politisch Handeln, die ich als Teenager kennengelernt hatte, habe ich immer seltener gefunden.

Und dann das zweite: Auch in meinem eigenen Herzen bekam die Friedensbegeisterung einen Knacks. Ich lebte ein paar Jahre in Israel und erlebte reale Kriege in Hörweite und Sichtweite. Hier, wo die Raketen nicht nur als Bedrohung in Silos lauern, sondern tatsächlich auf die Häuser und Schulen regnen, war es viel schwieriger zu sagen: Wir antworten mit Blumensträußen. Oder warten mal geduldig ab, wie schlimm es noch wird. Oder ob die anderen nicht doch irgendwann von selbst aufhören. Und dann kamen die Fragen: Ist es nicht in manchen Fällen doch notwendig, wenn auch schrecklich, Schlimmeres mit Gewalt zu verhindern? Meine einst so unerschütterlich schwarz-weiße Anti-Kriegs-Haltung bekam plötzlich verschiedene Schattierungen von Grau.

Neue Unsicherheiten

Und heute? Seit zwei Jahren steht das Thema „Krieg“ wieder neu auf der Tagesordnung. Weil ein Krieg an der Grenze von Europa tobt und weil eine Weltmacht daran beteiligt ist. Und dann die furchtbaren Massaker vom 7. Oktober und der anschließende Krieg gegen die Hamas. Wie verhalten sich da die Slogans „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder ist jetzt“ (ursprünglich ein Slogan gegen Judenhass und Judenvernichtung) zu einander? Ist es vielleicht doch nötig, Krieg zu führen, um Judenvernichtung zu verhindern? Was wäre aus Deutschland geworden, wenn es nicht 1945 durch einen furchtbaren Krieg besiegt – oder befreit – worden wäre? Und soll man den Kriegsopfern in der Ukraine lieber mit Blumensträußen helfen oder mit Waffenlieferungen? Auch in den großen Denkfabriken der evangelischen Kirchen haben sich hier die Ansichten deutlich verändert in den letzten Jahren.

Es ist Zeit, dass wir in diesen schwierigen Tagen unsere Bibel wieder neu in die Hand nehmen. Und uns wieder inspirieren lassen von der Vision des Friedens, die wir hier entdecken. Der Friede, von dem die Bibel spricht, ist kein blauäugiger Friede. Er rechnet mit der Realität des Krieges, aber er setzt alles daran, dass der Krieg nicht das letzte Wort behält. Das Bild, das die Bibel vom Frieden entwirft, ist auch kein schwarz-weißes. Es hat viele Nuancen. Aber es lohnt sich, dem Frieden nachzujagen. Gerade in einer Zeit der Unsicherheiten, wie wir sie erleben. Was also sagt die Bibel über den Frieden?

1. Friede ist mehr als die Abwesenheit von Krieg

In der Bibel ist Friede mehr als ein politischer Zustand. Das hebräische Wort „Schalom“ bedeutet eigentlich: Ganz sein, heil sein, vollständig sein. Und es bezieht sich einerseits auf die Welt als Ganzes. Etwa da, wo die Propheten die Zukunft so beschreiben: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“ (Micha 4,3-4). Es bezieht sich aber auch auf den Frieden in unserem Herzen (Ps. 4,9), den Frieden mit unserem Nächsten (Röm 12,17-18) und unseren Frieden mit Gott (Röm 5,1-11). Das Ziel Gottes ist in der Bibel nicht der Endsieg der Guten über die Bösen, auch nicht der Sieg Israels über seine Feinde, sondern es ist die Bekehrung der Guten ebenso wie der Bösen, und ihre Versöhnung mit Gott und mit einander (Hes. 33,11; 2. Kor 5,18-20). Darauf sollen wir hoffen. Dafür sollen wir beten. Davon sollen wir reden.

2. Krieg gehört zur Realität dieser Welt

Christen stellen gern das „kriegerische“ Alte Testament dem „friedfertigen“ Neuen Testament entgegen. Aber so einfach ist es nicht. Ein jüdischer Freund wies mich einmal darauf hin, dass die Zahl der Kriegsopfer im Neuen Testament ein Vielfaches höher ist als im im Alten. Und er hat recht, wenn man z.B. Offb 19,19-21 liest. Das Gebot der Nächsten- und Fremdenliebe dagegen stammt aus dem Alten Testament (Lev 19,18 und 33),und wird im Neuen Testament lediglich wiederholt. Hier kann man also nicht Neues gegen Altes Testament ausspielen: Gottes Plan des Friedens zieht sich durch die ganze Bibel. Aber auch die Realität des Krieges zieht sich eben durch die Bibel. Dabei ist Israel in den meisten Fällen das Opfer von Angriffen seiner Nachbarvölker, gegen die es sich wehren muss. Nur in den (relativ kurzen) Phasen des Exodus und der Landnahme, und dann noch einmal unter König David, führte Israel selbst Kriege gegen seine Nachbarn. Der oft gehörte Vorwurf, das ganze Alte Testament sei voll von „Gotteskriegen“, ist also ein altes judenfeindliches Zerrbild. Auch im Neuen Testament ist Krieg eine bitte Realität, die für selbstverständich hingenommen wird: So fordert Johannes der Täufer die Soldaten, die zu ihm kommen, nicht auf, ihren Beruf aufzugeben. Sondern nur, bei Ausübung ihres Berufes Recht und Gesetz zu wahren (Luk 3,14). Es gibt in der Bibel also eine Spannung zwischen Gottes großem Ziel des Friedens und der vorläufigen Realität dieser Welt.

3. Krieg ist manchmal not-wendig, aber nie gerecht

Die christlichen Lehrer der ersten Jahrhunderte versuchten, anhand dieser Spannung ein System aufzustellen, und unterschieden zwischen „ungerechten Kriegen“ (zum Beispiel aus Habgier, oder um ein Land zu erobern) und „gerechten Kriegen“ (z.B. um das eigene Land zu verteidigen oder um Christen, die von islamischen Eroberern verfolgt und abgeschlachtet wurden, zur Seite zu stehen). Aber ich persönlich würde nicht so weit gehen, einen Krieg „gerecht“ oder „gut“ zu nennen. Krieg ist immer schrecklich. Aber manchmal kann er das einzige Mittel sein, größeren Schrecken zu verhindern. Nicht alles, was Gott erlaubt, ist auch sein Wille: So erlaubt Gott in der Bibel ausdrücklich die Ehescheidung (5. Mose 24,1-4), und das obwohl er sie eigentlich nicht will (Mt 19,8). Manchmal ist sie der einzige Weg, einen Konflikt zu lösen und größeres Leiden zu verhindern. So ähnlich ist es vielleicht auch mit dem Krieg. Er ist nie gut. Und nie ein Grund zum Feiern oder Jubeln. Aber manchmal notwendig, um einen Konflikt zu lösen oder zumindest den Schaden zu begrenzen.

4. Frieden fängt bei uns selbst an

Wenn wir auf die Worte Jesu hören, dann sehen wir, dass er den Frieden nicht von den Politikern und Mächtigen einfordert, sondern zuerst von seinen Nachfolgern. „Selig sind die, die den Frieden schaffen“, heißt es am Anfang der Bergpredigt. Und dann gibt es viele Anweisungen, wie man es lernen kann, die Feinde zu lieben und die zu segnen, von denen man verfolgt wird. Diese Haltung zieht sich durch die ganze Bibel. Es ist gut, für den Frieden zu demonstrieren. Manchmal auch notwendig, für den Frieden zu kämpfen. Aber wirklicher Friede kann nur werden, wenn Menschen sich im Herzen verändern. Wenn sie aufhören, den anderen als Feind zu sehen. Wenn sie sich versöhnen lassen mit dem anderen. Und mit Gott. Denn unsere Entfremdung von Gott führt letztlich zu der Entfremdung von einander, und daraus wird am Ende Streit oder Krieg. Unsere Aufgabe heißt deshalb: „Jagt dem Frieden nach!“ (Hebr. 12,14; Röm 14,19). Den Frieden für die Welt können wir nur erbitten und erwarten. Den Frieden in unserem persönlichen Leben können wir schon morgen Wirklichkeit werden lassen.

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