„Vater des Lichts, du änderst dich nicht, bist immer derselbe…“, singen wir in einem bekannten Lobpreislied. Und so manches Mal habe ich mich dabei schon gefragt: Ist das eigentlich ein Kompliment?
Normalerweise, wenn jemand sagt: „Das ist immer dasselbe“, dann ist das eher als Vorwurf gemeint: „Immer dasselbe mit dir – nie hörst du mir zu!“. Oder: „Da geh ich nicht mehr hin, das ist langweilig und immer dasselbe.“ Sicher, bei Gott ist das als Kompliment gemeint – und der genannte Liedtext stammt ja auch direkt aus der Bibel, Jakobus 1,17: „…von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist“. Ganz ähnlich klingt es schon in Jesaja 41,4: „Ich bin’s, der HERR, der Erste, und bei den Letzten noch derselbe.“ Gott bleibt derselbe in Ewigkeit, das bedeutet Zuverlässigkeit, Verläßlichkeit, Treue. Gott ist nicht willkürlich oder launisch. Er bleibt sich selbst treu. Und das ist ja eigentlich etwas Gutes.
Und trotzdem: Ist Gott wirklich immer derselbe? Wenn ich die Bibel lese, dann finde ich darin sehr verschiedene Aussagen über Gott, manche davon sind sogar ziemlich widersprüchlich. Da steht zum Beispiel in Jeremia 46,10: „Denn dies ist der Tag Gottes, des HERRN Zebaoth, ein Tag der Vergeltung, daß er sich an seinen Feinden räche, wenn das Schwert fressen und von ihrem Blut voll und trunken werden wird.“ Jesus dagegen sagt in Matthäus 5,44: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Ist das wirklich derselbe Gott? Hat er vielleicht im Laufe der Zeit seine Meinung geändert? Oder ist der Gott des Neuen Testaments am Ende ein ganz anderer als der des Alten Testaments?
Viele Leute haben sich in der Geschichte für die letzte Antwort entschieden: Markion zum Beispiel, ein römischer Theologe, der kaum hundert Jahre nach Jesus lebte. Er wollte das ganze Alte Testament abschaffen, weil es seiner Meinung nach von einem anderen Gott redete. Dort ein Gott der Rache, hier einer der Liebe. Dort ein Gott des Gesetzes, hier einer der Freiheit. Dort ein Gott des Krieges, hier einer des Friedens. Dort ein Gott der äußeren Regeln, hier einer der inneren Werte. Und Markion war nur der erste in einer langen Reihe, die sich bis zu den Theologen des dritten Reiches hinzieht. Auch die wollten Jesus fein säuberlich vom „jüdischen Gott“ des Alten Testaments abtrennen.
Aber wer wirklich in der Bibel nachliest, merkt schnell, dass das so einfach nicht geht: Erstens hat Jesus sich immer wieder auf eben dieses Alte Testament berufen, wenn er von Gott redete. Er redete vom „Gott Abrahams“ und meinte auch genau diesen. Zweitens wäre es leicht, aus dem Alten Testament jede Menge Verse zu zitieren, die von Gottes Liebe, seinem Erbarmen, seiner Geduld und seiner Nähe reden. Und auf der anderen Seite könnte man ebenso viele Sätze von Jesus zitieren, in denen er vom Zorn Gottes, von seinem Gericht, von der Hölle und vom „Heulen und Zähneklappern“ redet. Es funktioniert also nicht, die verschiedenen Eigenschaften Gottes auf das Alte und das Neue Testament aufzuteilen. In beiden Teilen der Bibel bleibt Gott gleich verschieden.
Gott bleibt immer anders. Und das ist das Überraschende an ihm, weswegen wir es so schlecht aushalten können. Wir möchten Gott gerne sortieren und in einfache Schubladen einordnen. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Das Gute ins Neue, das Schlechte ins Alte Testament. Aber wenn wir genau hinsehen, dann merken wir, daß unser Wunsch nach Übersichtlichkeit einfach nicht der Tiefe des Charakter Gottes entspricht.
Moses wollte diesen Charakter Gottes in seiner ganzen Tiefe verstehen, und er bat Gott einmal darum, daß er sich ihm zeigt, wie er wirklich ist. Gott antwortete ihm, dass das nicht möglich ist. Aber dann zeigte er ihm doch ein wenig von dem, was sein Wesen ausmacht: „Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft läßt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!“ (2. Mose 34,6-7).
Gott vereint in sich das, was eigentlich ein Gegensatz ist: Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Gnade und Gericht. (Ps. 89,15; Hos. 2,21)
Die jüdischen Rabbiner zur Zeit Jesu stellten sich diesen Gegensatz vor wie zwei Kämpfer, die innerhalb des Charakters Gottes miteinander ringen: Die Gerechtigkeit will, dass alle Menschen gerecht verurteilt werden. Aber die Barmherzigkeit will, dass allen vergeben wird. Und dann sagen die Rabbiner: Gott spricht sein Urteil nach dem „Maß der Gerechtigkeit“, danach aber erhebt er sich vom Thron der Gerechtigkeit und nimmt den Thron der Gnade ein. Er vergibt den Menschen nach dem „Maß der Barmherzigkeit“, und so „triumphiert die Gnadeüber das Gericht“ (Jak. 2,13). Im Gleichnis vom König und den zwei Schuldnern (Matth. 18,23-35) hat Jesus genau diesen „inneren Konflikt“ Gottes in einem beeindruckenden Bild beschrieben.
Ändert sich Gott also? Nein, denn beides gehört von jeher zu seinem Wesen: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Und trotzdem auch Ja, denn er reagiert auf uns Menschen. Hier liegt das eigentlich Erstaunliche in Gottes Charakter: Dass er sich einläßt auf uns. Dass er bereit ist, sich zu verändern, wenn wir uns verändern. Dass er immer wieder anders ist, weil er nicht wie eine Maschine funktioniert oder wie ein Computer ein Programm abspult. Er ist immer wieder neu, mit jedem von uns fängt er von vorn an. Und genau darin bleibt er sich gleich. Gott bleibt anders, und genau das mag ich an ihm.
Quelle: Teens Mag 01/2006, S. 30-31 (395 kB)
(Original-Artikel hier als PDF herunterladen).