Jesus der Jude

Jesus war ein Jude. Was sich auf den ersten Blick wie eine Binsenweisheit anhört, ist bei näherem Hinsehen auch heute noch für viele Christen weder selbstverständlich noch eindeutig. Für viele Christen ist diese Tatsache bis heute irgendwie anstößig oder sonst schwierig zu verstehen. Für andere ist sie vielleicht selbstverständlich, aber sie können nicht sehen, wieso das überhaupt einen Unterschied für ihren persönlichen Glauben bedeutet.

Für mich persönlich jedenfalls ist die Tatsache, daß Jesus ein Jude war, erst wirklich lebendig und bedeutsam geworden, seitdem ich für ein Jahr dort gelebt habe, wo Judentum und Christentum, biblische Geschichte und gelebter Glaube zusammenkommen wie wohl sonst nirgendwo: in Jerusalem. Und mir ist erst dort aufgefallen, wieviel Verwirrung und Mißverständnisse es auch unter Christen immer noch gibt, wenn über den Zusammenhang von Christentum und Judentum geredet wird und über die Tatsache, daß Jesus ein Jude war. Und wie so oft, gibt es auch hier die Extreme auf beiden Seiten: Es gibt den nichtjüdischen Jesus auf der einen Seite und den allzu jüdischen Jesus auf der anderen.

Der nichtjüdische  und der allzu jüdische Jesus

Daß Jesus ein Jude war, können viele Christen bis heute nicht glauben. Für sie gehört das Judentum zu den fremden Religionen, denen der christliche Glaube als Gegensatz gegenübersteht. Jesus, so sehen sie es, hat sich vom Judentum abgewandt und eine neue Religion gebracht. Oder besser: Das Ende aller Religionen, also auch das des Judentums. Die Wurzeln dieses nichtjüdischen Jesusbildes reichen Jahrhunderte weit in die Kirchengeschichte zurück. Zu voller Blüte kamen sie allerdings erst in unserem Jahrhundert.

Es waren vor allem deutsche Theologen, die sich darum bemühten, das Christentum endgültig von seinen jüdischen Wurzeln zu trennen: Adolf von Harnack, der die Abschaffung des Alten Testamentes forderte. Julius von Wellhausen, für den Jesus der letzte Jude und Paulus der erste Christ war. Rudolf Bultmann, für den Jesus lediglich zu den Vorbedingungen einer neutestamentlichen Theologie gehörte, aber nicht in sie hinein. Alle diese Theologen gelten bis heute an deutschen Universitäten als anerkannte Autoritäten. Auf dem Grund dieser theologischen Vorarbeiten konnte dann die nationalsozialistische Ideologie aufbauen, die Jesus als einen blonden, blauäugigen und arischen Religionsstifter verkaufte, der nur durch einen unerklärlichen Zufall ausgerechnet unter den Juden in Palästina geboren wurde.

Auch wenn man diesen Irrweg nach dem Krieg schon bald wieder verlassen hat, bleibt in vielen Köpfen und Herzen bis heute ein Jesus am Leben, der wenig bis gar nichts mit dem Judentum zu tun hat. Bemerkbar macht sich das aber nur unterschwellig, zum Beispiel da, wo Juden stets nur als negatives Beipiel und als Gegner von Jesus in Predigten auftauchen. Oder da, wo bestimmte Frömmigkeitsformen oder Glaubensüberzeugungen als „biblisch“ bewahrt werden, obwohl sie doch viel eher aus der deutschen Volkskultur des 19. Jahrhunderts stammen als aus dem Israel des ersten Jahrhunderts.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch das Bild eines allzu jüdischen Jesus: Vor allem da, wo etwa Religionslehrer ihren Schülern beibringen, Jesus sei eben nur ein Jude gewesen, und alles Christliche hätten ihm erst später seine Anhänger angedichtet. Aus einer falsch verstandenen Ehrfurcht vor dem Judentum versucht man alle die Aussagen Jesu zu vertuschen, in denen er sich offen gegen jüdische Lehrer seiner Zeit gewendet hat. Wo man früher versuchte, alles jüdische an Jesus zu beseitigen, versucht man heute, all das wegzuerklären, was nicht zum Bild des jüdischen Rabbi Jesus paßt.

Wer ist eigentlich ein Jude?

Es gibt unter Juden eine Redensart, die besagt: „Wo sich zwei Juden treffen, da gibt es drei Meinungen.“ Ganz ähnlich sieht es auch in der Frage aus, wer denn überhaupt ein Jude ist. Bei einer Umfrage der „Jerusalem Post“ aus dem Jahr 1968  kamen da zum teil sehr verschiedene Antworten heraus.

Auf die Frage: „Wer ist eigentlich ein Jude?“ sagten 23 Prozent: Jeder, der sich selbst für einen Juden hält. Auf Jesus würde diese Definition zutreffen, denn er hat sich selbst zu den Juden gerechnet (Joh.4,9.22). Das bis heute gültige wichtigste Glaubensbekenntnis aller Juden war auch für ihn das höchste Gebot: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist einer.“ (Mk. 12,29)

19 Prozent der Befragten sagten: Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder offiziell zum Judentum konvertiert ist. Das ist übrigens auch die offizielle rabbinische Definition. Sie trifft auf Jesus ohne Frage zu. Er stammte nachweislich aus dem Stamm Juda, und sein Stammbaum ließ sich bis zu Abraham, dem Erzvater des jüdischen Volkes, zurückverfolgen. (Mt.1,1-16)

13 Prozent glaubten, daß derjenige ein Jude ist, der in Israel lebt oder sich mit dem Staat Israel identifiziert. Auch das war bei Jesus der Fall. Er wurde in Israel geboren, ist dort aufgewachsen, hat die Grenzen Israels Zeit seines Lebens kaum verlassen und hat sich auch in seinem Wirken hauptsächlich auf Israel beschränkt. (Mt. 15,24)

13 Prozent definierten einen Juden über das Einhalten der religiösen Gebote und Bräuche des Judentums. Und auch diese Definition trifft auf Jesus zu. Wir lesen in den Evangelien, daß Jesus wie alle frommen Juden am Schabbat in die Synagoge ging (Mk.1,21). An den hohen Festtagen pilgerte Jesus den ganzen Weg von Galiläa nach Jerusalem, um dort in den Tempel zu gehen: Zum Passahfest (hebr. Pesach, Joh.5,1), zum Laubhüttenfest (hebr. sukkot, Joh.7,2), zum Tempelweihfest (hebr. Channuka, Joh.10,22). Jesus achtete die Reinheitsgebote des Alten Testaments (Mk.1,44). Und er sagte ganz deutlich, daß kein Wort der Torah, also des jüdischen Gesetzes, vergehen würde bis zum Ende dieser Welt. (Mt.5,17-18).

Egal, welche dieser Definitionen also zutrifft: Nach allem, was Juden über ihre eigene Religion sagen, war Jesus fraglos ein Jude, und zwar ohne Abstriche.

Mit anderen Augen Bibel lesen

Was es bedeutet, daß Jesus ein Jude war, das merken wir ganz praktisch, wenn wir anfangen, das Neue Testament mit anderen Augen zu lesen. Mir persönlich ist erst durch das Leben in Israel bewußt geworden, wie sehr ich die Bibel immer noch mit der Brille der modernen westlichen Welt lese. Erst dort habe ich bemerkt, wie oft und wie deutlich im Neuen Testament der jüdische Hintergrund unseres Glaubens hervorleuchtet. Dabei müssen wir allerdings einige Barrieren überwinden: Zum einen ist da unsere eigene Unkenntnis über die jüdische Kultur. Viele Hinweise und Anspielungen in den Evangelien erkennen wir gar nicht, weil wir die jüdische Religion zu wenig kennen. Deshalb ist es für jeden Christen hilfreich, sich gut zu informieren über den jüdischen Glauben und das jüdische Leben – denn es hilft, die Bibel besser zu verstehen und sie nicht nur durch die Brille abendländischer Kulturgeschichte zu lesen.

Eine zweite Barriere ist die Sprache: Auf dem langen Weg der Übersetzungen vom Hebräischen des Alten Testaments über die aramäische Muttersprache Jesu und das griechische Neue Testament bis in unsere deutschen Bibelübersetzungen bleibt natürlich ein großer Teil der jüdischen Wurzeln des Christentums auf der Strecke. Nicht unbedingt durch Übersetzungsfehler, sondern einfach dadurch, daß jede Übersetzung kulturell geprägt ist und daß sich viele sprachliche Redewendungen nicht übersetzen lassen, ohne daß etwas verloren geht. Ein Beispiel: Wenn die ersten Christen in Jerusalem von „Jeshua dem Messias“ redeten, dann war allen Juden gleich klar, was damit gemeint war und welche atemberaubende Botschaft hier verkündet wurde. Die Griechen hörten: „Iesous Christos“ und verstanden wohl noch, daß hier von einem „gesalbten Jesus“ die Rede war. Aber was es mit dieser Salbung auf sich hatte, wußten auch sie nicht mehr. Die heutige deutsche Übersetzung „Jesus Christus“ schließlich klingt für den normalen Leser wie ein gewöhnlicher Eigenname, ähnlich wie „Hans Müller“. So geht auf dem Weg der Übersetzung der ganze tiefe Zusammenhang mit dem Alten Testament und der jüdischen Messias-Tradition verloren und muß immer wieder mühsam erklärt werden. Wer beim Bibellesen solchen Spuren nachgehen will, dem hilft nur eins: Er muß mit Worterklärungen, Parallelstellen, Konkordanz und Bibellexikon immer wieder nachforschen, was der Hintergrund eine bestimmten Bibelstelle sein könnte.

Jesus für Juden – Juden für Jesus

Daß Jesus ein Jude war, hat aber auch noch andere Konsequenzen: Denn das heißt, daß die klassische Aufteilung zwischen Christentum und Judentum nicht mehr funktioniert. Jahrhunderte lang gab es eine strenge Trennung zwischen den beiden „Religionen“. Wenn ein Jude Christ werden wollte, dann mußte er „konvertieren“ und völlig mit seiner jüdischen Vergangenheit brechen. Er durfte nicht mehr zur Synagoge gehen, keine jüdischen Feste mehr feiern, er mußte auf lateinisch beten statt auf hebräisch. Auf der anderen Seite hielten Juden das Christentum für eine fremde Religion. Jesus war für sie ein heidnischer Religionsstifter.

Und auch da, wo heute vom „christlich-jüdischen Dialog“ geredet wird, da legt man viel wert auf eine feine Trennung zwischen Christentum und Judentum. Jesus ist nur für die Christen da, Juden brauchen ihn nicht, heißt dort die Devise.

Wenn wir es aber ernst nehmen, daß Jesus ein Jude war, dann gilt tatsächlich, was Paulus schreibt: Nämlich daß das Evangelium „den Juden zuerst und dann auch den Nichtjuden“ gilt (Röm.1,16).  Mit anderen Worten: Wir haben als Christen überhaupt nicht das Recht, Jesus für uns zu behalten, denn er ist zuallerst einmal der Messias der Juden.

Diese Realität erleben in den letzten Jahrzehnten immer mehr Juden: Sie entdecken, daß Jesus ein Jude war und daß die Botschaft des Neuen Testaments zuallerst den Juden gilt. Sie verstehen, daß Jesus nicht das Ende des Judentums, sondern seine Erfüllung bedeutet. Und daß sie erst durch Jesus wirklich zu solchen Juden werden, wie Gott sie will. In Amerika macht die Bewegung „Juden für Jesus“ von sich reden, in der sich Juden zusammenschließen, die an Jesus als ihren Messias glauben. Auch in Israel gibt es von Jahr zu Jahr mehr Gemeinden, in denen sich solche „messianischen“ Juden versammeln. Sie leben, so wie Jesus und seine ersten Nachfolger, weiterhin als Juden. Sie feiern die jüdischen Feste, halten den Sabbat, lesen die Torah, achten die biblischen Gebote wie andere Juden auch. Aber sie wissen: Unsere Hoffnung auf die Erlösung durch den Messias ist erfüllt, seit Jesus uns am Kreuz erlöst hat.

Gerade für uns Christen in Deutschland ist es wichtig, das neu zu verstehen: Jesus war ein Jude, und er ist gekommen, um Juden und Nichtjuden zu retten. Es ist wichtig, weil wir nur so unsere eigenen Wurzeln entdecken und verstehen lernen. Und es ist wichtig, weil wir nur so eine gesunde Weise der Begegnung mit dem heutigen Judentum finden können: Eine Begegnung, die weder durch falsche Zurückhaltung noch durch falsche Überheblichkeit geprägt ist, sondern durch das Wissen: Der Jesus, der mein Herr und Erlöser ist, ist auch der Messias und Erlöser des Volkes Israel.


Quelle: Christsein heute 105/1998, Nr.10, S. 298-299 (474 kB)

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