Die Auferstehungserzählung in ihrem jüdischen und biblischen Kontext lesen
Bibelarbeit auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag, 3.5.2025
Heute vor einer Woche haben sich auf dem Petersplatz in Rom mehr als 250.000 Menschen versammelt, um Abschied zu nehmen von Papst Franziskus. Eine Woche davor, am Ostersonntag, hat der Papst noch mit Christinnen und Christen aus aller Welt das Osterfest gefeiert, das Fest der Auferstehung. Am Nachmittag desselben Tages hat er noch einmal eine letzte Nachricht über seinen offiziellen Twitter-Kanal gesendet. Es waren seine letzten öffentlichen Worte. Und in aller Kürze haben sie die Kernbotschaft von der Auferstehung treffend und kraftvoll zusammen gefasst:
Christus ist auferstanden! Diese Botschaft enthält den ganzen Sinn unseres Daseins, das nicht für den Tod, sondern für das Leben bestimmt ist.
Mit diesen Worten und mit diesem Glauben ist er mutig, stark und beherzt der Schwelle des Todes entgegen gegangen.
Woher stammt die enorme Kraft, die diesem Bekenntnis inne liegt? Woher nährt sich diese Hoffnung, die dieser Auferstehungsglaube ausstrahlt? Sie stammt aus dem Bibeltext, der heute morgen in allen Bibelarbeiten des Kirchentags gelesen wird: Den Bericht von der Auferstehung Jesu am Ostermorgen aus Matthäus 28,1-10:
Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria Magdalena und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Erscheinung war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erbebten aus Furcht vor ihm und wurden, als wären sie tot.
Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern: Er ist auferstanden von den Toten. Und siehe, er geht vor euch hin nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt.
Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen. Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sprach: Seid gegrüßt! Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Da sprach Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: Dort werden sie mich sehen. (Mt 28,1-10)
Was ist es an dieser Erzählung, das so viel Sprengkraft in sich trägt, dass sie bis heute so vielen Menschen Mut und Hoffnung gibt? Es gäbe zu diesem kurzen Text enorm viel zu sagen, und wenn wir den ganzen Tag Zeit hätten, dann würde ich liebend gerne auf jedes Detail und jeden Aspekt der Geschichte eingehen. Aber ich möchte in dieser Bibelarbeit heute einen anderen Weg gehen. Ich werde den Text einmal nicht Vers für Vers auslegen, sondern stattdessen die Erzählung einordnen in ihren größeren Zusammenhang. Und das ist der größere Kontext der jüdischen Welt des Neuen Testaments.
Ich möchte den kurzen Text also gewissermaßen in seinen größeren Rahmen einordnen. Und das, weil ich glaube, dass wir ihn manchmal in einem zu kleinen Rahmen lesen. So wie wir überhaupt Bibeltexte viel zu oft in einem zu kleinen Rahmen lesen. Und damit sind wir bei der Grundfrage nach unserem Bibelverständnis und unserem Bibelzugang, zu dem es ja hier gleich im Anschluss auch noch ein Podiumsgespräch gibt.
Unsere kirchliche Tradition ist es ja, Bibeltexte in sogenannte Perikopen einzuteilen, also kurze, leicht verdauliche Abschnitte. (Perikope heißt auf griechisch: Herausgeschnittenes.) Und dann schauen wir, was diese kleine, herausgeschnittene Bibelstelle für unser persönliches Leben heute und für unseren Alltag in dieser Woche zu sagen hat. Der Vorteil bei diesem Verfahren des Herausschneidens ist es, dass man sich auf ein paar wenige Sätze konzentrieren kann und danach fragt, was sie für uns bedeuten könnten.
Auch in der Tradition des persönlichen Bibellesens haben wir gelernt, uns auf diese Frage zu konzentrieren: Was bedeutet dieser Text für mich ganz persönlich hier und heute?
Das ist auch einerseits eine gute Hilfe, sich zu fokussieren. Ich nehme auch an, dass die Geschichte von heute auch deshalb vom Vorbereitungskommittee ausgewählt wurde. Weil es eine Geschichte von zwei Frauen ist, die sich in einer persönlichen Krise mutig, stark und beherzt auf den Weg machen, um ihre Schwierigkeiten zu überwinden und dabei Jesus begegnen. Solche Geschichten von mutigen, starken und beherzten Menschen hatten wir ja auch in den Bibelarbeiten der letzten beiden Tage: Eine mutige Frau, die Jesus entgegentritt, um Heilung für ihr Kind zu erbitten. Und ein Prophet, der die Menschen im Exil ermutigt, sich für ihre Stadt einzusetzen. Das sind alles drei wichtige Hoffnungsgeschichten. Und man kann sie, jede für sich, als persönliche Mutmachgeschichten lesen.
Aber die Gefahr ist natürlich, dass dabei auch sehr viel verloren geht. Denn die biblischen Texte, so wie dieser hier, sind ja immer eingebettet in einen größeren Zusammenhang:
- Den Zusammenhang der antiken Zeit und Kultur
- Den größeren Zusammenhang der biblischen Gesamtstory
- Bei neutestamentlichen Texten insbesondere der Zusammenhang jüdischen Glaubens, jüdischen Lebens, jüdischer Geschichte und jüdischer Spiritualität
Wer diese Geschichten damals gelesen oder gehört hat, der hat möglicherweise mehr und tiefer verstanden, worum es darin geht, als wir heute das tun. Nehmen wir zum Beispiel nur einmal den ersten Satz unseres heutigen Textes:
Als aber der Schabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach
Für uns als heutige christliche Leser ist der Satz zunächst einmal nur eine schlichte Zeitangabe. Es hätte auch stehen können: Zwei Tage später. Aber für jüdische Ohren ist die Erwähnung des Schabbat am Anfang des Textes mehr als das: Das Wort Schabbat öffnet eine ganze Welt für sich, einen spiritueller Raum, ein theologisches Konzept, eine Tür zu einer anderen Welt. Und für damalige Leser hatte die Erwähnung des Schabbat eine Signalwirkung, die uns heute leicht entgeht. Und dieser Schabbat bildet den Rahmen für die ganze Geschichte, die folgt. Sie stellt die Geschichte sozusagen in einen größeren Zusammenhang.
Eigentlich steht hier auch nicht, dass der erste Tag der neuen Woche anbrach, sondern dass er „aufleuchtete“, oder auch „auffunkelte“. Was ist damit gemeint? Dabei an die Morgendämmerung. Weil bei uns Tage um Mitternacht enden und der nächste Tag dann mit dem Morgen anfängt, wenn die Sonne aufgeht.
In der jüdischen und biblischen Tradition aber endet der Tag am Abend, und die Nacht zur Neuen Woche beginnt, wenn am Nachthimmel die ersten drei Sterne zu sehen sind. Die Frauen gehen also nicht am frühen Morgen, sondern schon zu Beginn der Nacht los zum Grab. Sie kommen dann dort an, wie wir in anderen Evangelien lesen, als es hell wird.
Das mag zunächst wie ein kleines unwichtiges Detail klingen, aber es zeigt, dass es sich lohnt, genauer hinzusehen und Bibeltexte in ihrem ursprünglichen Kontext zu lesen. Das will ich heute morgen tun und schauen, was wir entdecken, wenn wir den Spuren folgen, die der Text uns gibt.
Denn es ist ja nicht nur die Erwähnung des Schabbat, die diesen Text in besonderer Weise einordnet in den Kontext jüdischer Spiritualität. Es ist noch eine andere zeitliche Einordnung, die in den Evangelien ebenfalls benannt wird. Es ist nämlich ein ganz besonderer Schabbat, nämlich der Schabbat während des einwöchigen Pessach-Festes. Alle Evangelisten weisen uns mehrfach darauf hin, Lukas zum Beispiel in Kap 22,1:
Es war aber nahe das Fest der ungesäuerten Brote, das Passa heißt.
Wir wissen das natürlich, dass Jesus gekreuzigt wurde an einem Pessachfest, das im Griechischen Neuen Testament – und deshalb auch in der christlichen Tradition – „Passa“ ausgesprochen wird. Aber was bedeutet das eigentlich für unser Verständnis dieser Auferstehungsgeschichte, dass Jesus nach dem Ende des Schabbat, und am dritten Tag des Pessachfestes von den Toten aufersteht? Meine Erfahrung ist, dass neutestamentliche Berichte durch solche Einordnungen in den Rahmen jüdischer Spiritualität noch einmal eine andere Tiefendimension erhalten. Eine, die über eine blosse Mutmachgeschichte für den Alltag weit hinausgeht.
Ich hoffe daher, dass ich Sie heute morgen mitnehmen kann auf eine Entdeckungsreise in die Welt der Bibel, in die Welt des jüdischen Glaubens und Lebens. Indem ich diese kleine Geschichte einordne in zwei der größeren Rahmengeschichten der Bibel – die Rahmengeschichte des Schabbat und die Rahmengeschichte des Pessachfestes.
1. Das Kreuz, die Auferstehung und der Schabbat
Welche Rolle spielt der Shabbat für die Botschaft von Kreuz und Auferstehung? Warum wird der Shabbat hier von Matthäus so ausdrücklich erwähnt? (Im Matthäusevangelium übrigens gleich zweimal, weil dem Wort „Schabbat“ und dem Wort „Woche“ im Griechischen in beiden Fällen sabbaton zugrundeliegt.)
Die Erwähnung des Schabbat spannt den Bogen ganz weit bis an den Anfang der Bibel. Dort heißt es am Ende des Schöpfungsberichts:
So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. 2 Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. 3 Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte. (Gen 2,1-3)
Das ist ein Bibeltext, der bis heute in jedem jüdischen Haus (wenn es denn religiös ist), gelesen wird. Der Shabbat ist also ein Sinnbild für die Vollendung von Himmel und Erde. Der Tag, an dem Gott sein Werk vollendet. Aber er erinnert dabei nicht nur an die Vollendung der Erde damals am Anfang, sondern er ist zugleich ein Ausblick auf die Vollendung der Welt am Ende der Tage. Die Ruhe des siebten Tages spiegelt die Vollendung der Welt wider. Ales ist gut, sogar sehr gut. Es gibt nichts mehr, was noch fehlt. Das Werk ist vollbracht. Es ist Zeit für die Ruhe.
Ich habe ja zusammen mit meiner Frau für ein paar Jahre in Jerusalem gelebt und gearbeitet, und da ist mir mit der Zeit aufgefallen, wie unterschiedlich Christen und Juden über den Shabbat denken und reden. Wenn man mit Christinnen oder Christen über den Shabbat redet, dann dreht sich das Gespräch fast immer darum, was am Shabbat alles verboten ist. Und wie sehr die armen Juden darunter leiden, dass sie den Shabbat halten müssen.
Und im Unterschied dazu habe ich fast immer, wenn ich mit Jüdinnen oder Juden gesprochen habe, die Freude am Shabbat erlebt: Endlich ein Tag, an dem man durchatmen kann. Ein Tag, an dem man nicht mehr schuften und arbeiten muss. In dem Moment, in dem die Frau des Hauses die beiden Shabbatkerzen entzündet, darf man sagen: Es ist alles vollbracht. Man kann ruhen und sich innerlich vorbereiten auf die neue Woche, die am nächsten Tag anbricht.
Avraham Joshua Heschel, ein großer jüdischer Philosoph des 20. Jahrhunderts, hat es einmal so formuliert:
Sechs Tage der Woche kämpfen wir mit der Welt, ringen wir dem Boden seinen Ertrag ab; am Sabbat gilt unsere Sorge vor allem der Saat der Ewigkeit, die in unsere Seele gesenkt ist. Unsere Hände gehören der Welt, aber unsere Seele gehört einem anderen. Sechs Wochentage lang suchen wir, die Welt zu beherrschen; am siebten Tag versuchen wir, das Selbst zu beherrschen.“
(Abraham J. Heschel: Der Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Original 1951, deutsche Ausgabe: Neukirchen-Vluyn 1990, S. 11
Aber stimmt es eigentlich, dass am siebten Tag gar nichts mehr erschaffen wurde? Die jüdischen Rabbinen, also die Bibelausleger der ersten Jahrhunderte, stellen eine spannende Frage: Gab es wirklich nichts, was am siebten Tag geschaffen wurde?
Und im Midrasch, einer alten Sammlung von Bibelauslegungen der Rabbinen, finden wir dann eine überraschende Antwort:
Was wurde denn, als Gott ruhte, erschaffen? Die Ruhe (hebr. menucha), Stille und Rast. (Gen. Rabbah 10,9 zu Gen 2,3)
Das hebräische Wort für Ruhe, menucha, zieht sich von hier aus wie ein roter Faden durch die Bibel. Denn schnell haben die Menschen gemerkt, dass die Welt ganz und gar nicht immer aus Ruhe und Frieden besteht. Wenige Seiten später lesen wir vom ersten Vertrauensbruch zwischen Gott und Menschen, dann vom ersten Mord eines Menschen an seinem Bruder. Wir lesen Geschichten der Auflehnung gegen Gott, und Geschichten, in denen Völker andere Völker unterdrücken und versklaven.
Die von Gott geschaffene Ruhe, die vollkommene Welt, bleibt zunächst eine Utopie, ein Ort, von dem wir träumen, den wir aber selten erleben. Deshalb wird die menucha, die Ruhe, in der Bibel zu einer Verheissung, die Gott seinem Volk mit auf den Weg gibt als ein Versprechen für die Zukunft. In 5. Mose 12,9-10 zum Beispiel sagt Gott seinem Volk:
9 Denn ihr seid bisher noch nicht zur Ruhe und zu dem Erbteil gekommen, das dir der HERR, dein Gott, geben wird. 10 Ihr werdet aber über den Jordan gehen und in dem Lande wohnen, das euch der HERR, euer Gott, zum Erbe austeilen wird, und er wird euch Ruhe geben vor allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen.
Und das Wort menucha erscheint auch in einem anderen sehr bekannten Bibeltext. Leider ist es in der Lutherübersetzung etwas verlorengegangen. Nämlich am Anfang des bekannten Psalms 23. Da heißt es bei Luther:
Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
Eigentlich steht hier aber: „… und führet mich zu Wassern der Ruhe (menucha)“. Im Englischen wird das noch deutlich: „He leads me to quiet waters“, heißt es da oft.
Die Ruhe des ersten Schabbats ist also die Verheissung Gottes für jeden von uns und für unsere Welt. Und dennoch erleben wir sie so selten. Warum? Weil wir uns der Leitung des guten Hirten entziehen. Psalm 95 beschreibt diese Erfahrung am Beispiel des Volkes Israels in der Wüste, der sogenannten „Generation der Wüste“. Dort wird ebenfalls an das Bild vom guten Hirten angeknüpft:
Denn er ist unser Gott und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand. (Ps. 95,6)
Aber dann heißt es weiter:
7 Wenn ihr doch heute auf seine Stimme hören wolltet:
8 »Verstocket euer Herz nicht,
wie zu Meriba geschah, wie zu Massa in der Wüste,
9 wo mich eure Väter versuchten und prüften
und hatten doch mein Werk gesehen.
10 Vierzig Jahre war dies Volk gegen mich, so dass ich sprach: /
Es sind Leute, deren Herz immer den Irrweg will
und die meine Wege nicht lernen wollen,
11 sodass ich schwor in meinem Zorn:
Sie sollen nicht zu meiner Ruhe kommen.«
Nun ist es, insbesondere für Christen, hier mit dem ausgestreckten Finger auf die Juden zu zeigen und zu sagen: Ja, das ist ein Text, der sich gegen Israel wendet. Die sind ja auch schlimm und störrisch und halsstarrig. Die haben den Zorn Gottes ja auch verdient. Aber wir, wir sind natürlich anders“. So ist dieser Text (und andere in der Bibel) auch tatsächlich Jahrhunderte lang von Christen ausgelegt worden. Und heute werden die Stimmen wieder lauter und lauter, auch bei uns, die den Zorn Gottes auf Israel und die Juden herabrufen, und das vermeintlich im Namen von Liebe und Gerechtigkeit.
Ein großer Irrtum. Denn wenn wir ehrlich sind, dann spricht der Text genauso über uns und unsere Abwendung von Gott. Wir selbst sind es, die in dieser Welt diesen Ort der Ruhe noch nicht erreicht haben, zu dem Gott uns hinführen will. Wir selbst sind es, die noch geprägt sind von Unruhe, von Sturheit, von Eigenwilligkeit.
Aber die Verheissung der Ruhe bleibt bestehen. Gott möchte diese Welt an ihr gutes Ziel bringen. Und der Schabbat ist eine Erinnerung daran. Einmal in der Woche. Der Schabbat, so sagt es die jüdische Tradition, soll ein Vorgeschmack sein auf die kommende Welt. Auf die Welt, in der Gottes Ruhe herrscht, seine Menucha. Im Talmud, der alten Sammlungen jüdischer Gelehrsamkeit, heißt es über den Schabbat:
„Jeder Shabbat ist wie ein sechzigstel Vorgeschmack auf die kommende Welt.“ (Babylonischer Talmud, Berachot 57b)
Und das ist auch der Grund warum hier in unserem Bibeltext ganz am Anfang ausdrücklich gesagt wird:
„Als der Schabbat vorüber war und ein neuer Tag aufleuchtete.“ (Mt. 28,1)
Hier wird der große Rahmen gespannt vom Anfang der Welt zum Anbruch der neuen Welt Gottes. Die Auferstehung Jesu ist mehr als nur die Rückkehr eines Toten ins Leben. Diese Erzählung ist mehr als eine persönliche Mutmachgeschichte, die uns ermutigt, in der Krise nicht zu verzweifeln. Es ist die Geschichte vom Anbruch einer ganz neuen Welt.
Am Schabbat selbst ruht Jesus im Grab, so wie Gott ruhte am siebten Tag der Schöpfung. Aber der Tag nach dem Schabbat ist der Beginn einer neuen Schöpfung. Der Tag, an dem Jesus aufersteht, ist der Tag, an dem Gottes neue Welt beginnt. Der erste Tag der neuen Schöpfung. Paulus schreibt deshalb später über Jesus:
„Er ist der Erstgeborene aller Schöpfung“ (Kol 1,15)
Das ist übrigens auch der Grund, warum Jesus immer wieder am Schabbat heilt. Die christliche Tradition hat das oft so ausgelegt, als ob es Jesus darum ging, das Judentum und seine angeblich übertriebene oder falsche Gesetzlichkeit zu bekämpfen. Jesus der Regelbrecher und Religionskritiker, der uns vorlebt, wie man sich gegen Religion wehrt.
Aber die letzten Jahrzehnte der Jesusforschung, an der sich zunehmend nicht nur christliche, sondern auch jüdische Forscher beteiligen, zeichnen ein ganz anderes Bild: Man hat festgestellt, dass Jesus immer dann, wenn ihm vorgeworfen wurde, er breche den Schabbat, diesen Vorwurf ausdrücklich zurückgewiesen hat. Und tatsächlich lässt sich, aus jüdischer Sicht, in den Erzählungen von Heilungen am Schabbat nichts feststellen, was den Regeln des jüdischen Gesetzes widerspricht. Auch wenn es damals Gruppen gab, die das wohl anders sahen.
Jesus hat den Schabbat aber nicht nur einfach eingehalten, er hat sogar genau das getan, wofür der Schabbat eigentlich gedacht war: Nämlich ein Vorgeschmackt der kommenden Welt Gottes zu sein. Deshalb hat Jesus gerade den Schabbat dazu genutztr, eine kaputte Welt zu heilen.
Wenn der Schabbat so etwas wie ein Vorgeschmack auf die kommende Welt ist, dann ist er der beste Tag, um Kranke zu heilen. Nach einer alten jüdischen Tradition, von der wir im Talmud lesen, soll man sogar gerade am Schabbat besonders für die Kranken beten, weil der Schabbat besonders mit der Hoffnung auf Heilung verbunden ist.
„Unsere Rabbis lehrten uns: Wer am Schabbat einen Kranken besucht, der soll sagen: „es ist Schabbat, heute ist kein Tag um zu klagen, denn die Heilung ist nahe und wird kommen!“ Und Rabbi Meir fügte noch hinzu: An diesem Tag ist es besonders angebracht, Barmherzigkeit (mit den Kranken) zu zeigen. Und Rabbi Yehuda pflegte (am Schabbat für Kranke) so zu beten: „Möge der Allmächtige sich erbarmen über dich und alle, die krank sind in Israel. “ (Babylonischer Talmud, Shabbat 12a)
Jesus heilt nicht, um den Shabbat zu brechen. Sondern er heilt, weil er kam, um eine kaputte Welt heil zu machen. Um Menschen hineinzunehmen in die verheissene Ruhe Gottes. An anderer Stelle hat er diese Worte gesagt:
„Kommt her zu mit alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Kommt zu mir und lernt von mir, dann werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“ (Mt. 11,28-29)
Die Verheissung der Ruhe. Auch hier. Die menucha Gottes. Im nächsten Satz, den wir meistens nicht mehr mitlesen, weil die mittelalterliche Kapitelzählung ihn abgetrennt hat, heisst es dort:
„Zu dieser Zeit ging Jesus gerade durch ein Feld am Sabbat.“ (Mt 12,1)
Wieder ein Bibeltext, der ganz bewusst an einem Schabbat seinen Ort hat. So wie unser Text heute. Und auch dieser Text bekommt er durch diese zeitliche Einordnung seine eigentliche Tiefe: Jesus sagt: Die Menucha, die Ruhe, die Gott vom Anbeginn der Zeit für euch vorbereitet hat, die findet ihr bei mir. Jesus ist es, der die verheissene Ruhe bringt, nach der sich unsere Welt sehnt. Das ist die größere Geschichte des Schabbat, wie sie das Neue Testament erzählt.
Sie reicht
- von der Schöpfung der Welt
- über die Verheissungen an das Volk Israel,
- die Heilungen am Sabbat
- und die Einladung Jesu zur Ruhe für unsere Seelen
- bis hin zu diesem einen Schabbat, von dem unser Bibeltext spricht.
Denn was hatte Jesus gesagt, an eben jenem Freitag Nachmittag, kurz bevor der Shabbat anbrach?
„Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30)
Diese Worte spannen den Bogen zurück an den Anfang der Bibel:
„Und so wurden vollendet Himmel und Erde. Und Gott ruhte von allen seinen Werken“ (Gen 2,1)
So wie Gott nach Abschluss der ersten Schöpfungswoche sein Werk der Schöpfung vollendete, so hat er am Abschluss der Karwoche sein Werk der Erlösung vollendet. Und deshalb gibt der Schabbat auch dem Kreuz eine tiefe Bedeutung.
Es gibt ja immer wieder Anfragen und Diskussionen über die Bedeutung des Kreuzes. Das war schon vor zweihundert Jahren so, aber es ist auch jetzt gerade ein heißes Thema in den sozialen Medien. Für immer mehr Menschen heute ist der Gedanke schwierig oder sogar unerträglich, dass Jesus den Weg ans Kreuz selbst gewählt haben soll. Ihnen fällt es schwer zu glauben, dass Jesus den eigentlichen Grund seines Kommens darin sah, sein Leben zu geben als ein Lösegeld für Sünder, so wie er es z.B. in Mk 10,45 ausdrückt. Sie halten das alles für eine nachträgliche Deutung seiner Anhänger.
Und manche sagen dann außerdem: Das ist nur eine von vielen möglichen Deutungen. Es gibt schließlich auch andere, solche, in denen Jesus nicht sterben muss an für unsere Sünden.
Aber schon diese wenigen Worte Jesu am Kreuz, „es ist vollbracht“, sprechen sehr deutlich eine andere Sprache: Das Werk der Erlösung Jesu am Kreuz war nicht erst eine nachträgliche Deutung seiner Anhänger, sondern es war ein Weg, den Jesus bewusst gegangen ist. Weil er wusste, das ist sein Auftrag, den es zu vollenden gilt.
Jesus sagt: „Es ist vollbracht.“. Das bedeutet, es ist hier kein Fehler der Geschichte passiert. Kein Unfall in Gottes Plan der Erlösung. Sondern genau das war das Ziel, zu dem Jesus in diese Welt kam. So wie Gott am sechsten Tag sein Werk der Schöpfung vollendete, so vollendet Jesus am sechsten Tag das Werk der Erlösung der Welt.
Und dann kam der Tag der Ruhe. Der Tag, an dem der Atem der Welt stillstand. Der Tag, an dem der Sohn Gottes im Grab ruhte. Der große Schabbat, den Gott seinem Volk von alters her verheissen hat.
Und als dieser Ruhetag vorüber war, begann der erste Morgen der neuen Schöpfung. Der Tag, an dem die Welt zu ihrem Ziel kam, das Gott schon immer für sie im Auge hatte: Das Leben in der kommenden Welt. Deshalb hat es einen Sinn, dass der Bericht von der Auferstehung genau mit diesen Worten anfängt:
„Als es spät geworden war am Sabbat, und der erste Tag der neuen Woche hervorfunkelte, gingen Maria von Magdala und die andere Maria zum Grab, um nach dem Grab zu sehen.“ (Mt. 28,1)
Gottes großer Plan mit dieser Welt streckt sich vom Anfang der Welt, vom ersten Schabbat am Beginn der Schöpfung bis zum ersten Tag der neuen Schöpfung. Und die Auferstehung Jesu von den Toten markiert den Umbruch der Zeiten. Die Vollendung der alten Schöpfung Gottes und den Anbruch der neuen Welt Gottes.
Dieser Schabbat, von dem wir hier lesen, war nicht nur der Vorgeschmack, sondern die Schwelle und das Eingangstor zur kommenden Welt Gottes.
Das Kreuz, die Auferstehung und das Pessach-Fest
Aber nun gibt es noch einen zweiten großen Rahmen, in den diese Geschichte hineingestellt ist. Es ist nicht nur das Ende des Schabbat, sondern es ist darüber hinaus auch der dritte Tag des jüdischen Pessachfestes.
Und auch das ist kein Zufall, sondern wenn wir die Evangelien lesen, merken wir, dass das Pessachfest nicht nur den Ereignissen von Tod und Auferstehung Jesu, sondern eigentlich seinem ganzen Leben zugrunde liegt.
Es ist so etwas wie ein verborgenes Skript, das geheime Drehbuch, das den Berichten über sein Leben zugrunde liegt. Und das ihnen ihren tieferen Sinn verleiht, wenn man weiß, worum es am Pessachfest geht. Aber auch dafür müssen wir vorne anfangen: Worum geht es am Pessachfest?
Es ist das Fest der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Man feiert es jedes Jahr mit einem gemeinsamen Abendessen und erzählt sich dabei davon, wie Gott sein Volk aus der Hand der Ägypter errettete und aus der Sklaverei befreite. Die Teilung des Schilfmeeres und den Aufbruch in ein neues Land, das gelobte Land.
Die meisten von Ihnen werden wissen, dass das letzte Abendmahl Jesu so ein Pessachmahl war. Aber das Pessach Fest erscheint schon vorher im Leben Jesu immer wieder. Drei der vier Evangelien stellen es wie eine Art Überschrift an den Anfang ihrer Erzählung vom Leben Jesu:
Schon dass Jesus am Anfang seines Wirkens von Johannes im Jordan getauft wurde, und zwar genau dort, wo das Volk Israel beim Einzug in das gelobte Land durch den Jordan zieht, ist ein Hinweis darauf, dass wir sein Leben mit der Exodus-Erzählung in Verbindung bringen sollen. Die ganze Symbolik der Taufe des Johannes im Jordan knüpft an die Erzählung vom Durchzugs des Volkes Israel durch das Schilfmeer, und dann auch durch den Jordan, an: Im Leben Jesu wiederholt sich, was Gott damals mit seinem Volk tat: Ein Weg aus der Gefangenschaft in die Freiheit.
Aber es gibt noch mehr Hinweise dafür, dass wir die Geschichte Jesu vor dem Hintergrund des Pessach-Festes lesen sollen: Drei der vier Evangelien bringen das Fest auf die eine oder andere Weise gleich am Anfang ihres Evangeliums ins Spiel.
Johannes zum Beispiel verlegt die Erzählung von der Tempelreinigung Jesu, die eigentlich an das Ende seines Lebens gehört, gleich ins zweite Kapitel seines Evangeliums, und fügt ausdrücklich hinzu, dass diese Tempelreinigung an einem Pessachfest geschah (Joh 2,13).
Lukas setzt noch früher an und erzählt vom zwöljährigen Jesus, der zusammen mit seinen Eltern, wie jedes Jahr, zum Pessachfest in den Tempel nach Jerusalem geht (Luk 2,41).
Und im Matthäusevangelium wird das Pessach-Thema noch früher angesprochen, nämlich schon bei der Geburt Jesu. Er tut es zwar etwas verborgener, aber dafür in großer Breite: Wenn wir genau hinsehen, macht Matthäus in seiner Erzählung von Jesus auf eine ganze Reihe von Parallelen zwischen der Jesusgeschichte und der Pessachgeschichte aufmerksam:
In beiden Erzählungen gibt es zum Beispiel einen Joseph, der Träume hat. Und in beiden Geschichten führen die Träume das Joseph zu einer Flucht nach Ägypten. In beiden Geschichten gibt es einen bösen König, der alle neugeborenen Kinder ermorden will. Und in beiden Geschichten wird das Kind wunderbar gerettet.
Und als Jesus dann mit seiner Familie aus Ägypten nach Israel zurückkehrt, fügt Matthäus den Satz hinzu:
So wurde erfüllt, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.« (Mt 2,16)
Das ist ein Wort des Propheten Hosea, und wenn wir es nachschlagen, dann entdecken wir: Der Prophet spricht hier eigentlich vom Exodus und von der Herausführung Israels aus Ägypten.
Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn aus Ägypten. (Hosea 11,1)
Hat Matthäus hier seine Bibelfalsch zitiert oder verdreht? Nein. Er will sagen: Auf eine verborgene Weise sind die Geschichte Israels und die Geschichte Jesu miteinander verbunden. Und das, was der Prophet hier über Israel gesagt hat, gilt deshalb auch von Jesus, denn die Jesusgeschichte ist so etwas wie eine neue Exodusgeschichhte. Eine neue Pessacherzählung. Warum? Weil Gott sein jetzt wieder sein Volk befreit.Der Engel hatte zu Joseph schon vor der Geburt Jesu gesagt:
„Maria, deine Frau (…) wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden.“ (Mt 1,20-21)
Das Wortspiel, das Matthäus hier verwendet, macht nur in der hebräischen Sprache einen Sinn: Denn der Name Jesus, auf hebräisch Jeshua, heißt übersetzt: Rettung, Befreiung. Weil Jesus kam, um sein Volk zu retten. Wie damals aus Ägypten. Nur, dass es hier um eine andere Rettung geht. Die Sklaverei, um die es geht, ist nicht die Sklaverei in Ägypten. Es ist auch nicht die Besatzung durch die Römer. Die ist für Jesus interessanter Weise gar kein Thema, obwohl sie heute in fast jeder Predigt über Jesus irgendwie eingeflochten wird. Aber Jesus kam nicht als ein politischer Befreier. Sondern er kam, wie es hier heißt, „um sein Volk zu retten von ihren Sünden“.
Und damit kommen wir jetzt wieder zum Höhepunkt der Evangelien, zu den Berichten von Kreuz und Auferstehung. Und vom letzten Abendmahl. Jesus nimmt bei dieser Pessach-Feier den Kelch mit Wein, spricht den üblichen Segensspruch, und sagt dann:
„Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ (Mt 26,28)
Jetzt macht auch hier, so wie am Kreuz, nicht viele Worte. Er entfaltet keine ausführliche Kreuzestheologie. Viele würden sich das wünschen. Aber Jesus sagt nur wenige Sätze. Das ist auch sicher der Grund, warum es heute so viel Diskussionen über das Kreuz gibt. Aber die wenigen Sätze, die Jesus spricht, enthalten eine tiefe Bedeutung, wenn man sie versteht vor dem Hintergrund der Pessach-Erzählung. Denn Jesus benutzt das Pessachfest, eines der wichtigsten Feste des jüdischen Kalenders, um die Bedeutung seines Todes deutlich zu machen.
Deshalb muss er nicht viele Worte machen. Den Menschen seiner Zeit und seiner Kultur war die reichhaltige Bedeutung des Pessachfestes bekannt. Sie verstanden die Symbole, kannten die biblischen Texte, die ihnen zugrunde lagen, und füllten deshalb auch die knappen Sätze, die Jesus spricht, mit der entsprechenden Bedeutung.
Und auch das spricht gegen die Behauptung, dass wir im Neuen Testament nur nachträgliche Deutungen des Kreuzes aus der Perspektive der späteren Jesusnachfolger finden. Und dass wir deshalb nichts Sicheres sagen können über die Bedeutung des Kreuzes.
Aber es stimmt einfach nicht. Zumindest dann nicht, wenn wir den Berichten des Neuen Testaments glauben und sie nicht pauschal für spätere Erfindungen halten. Denn in den Evangelien haben wir eben nicht nur nur nachträgliche Deutungsversuche. Sondern wir haben auch Worte von Jesus selbst. Worte, die er vor seinem Tod über seinen Tod sprach.
Und die zeigen, dass Jesus mit einer klaren Absicht ans Kreuz ging. Wir haben das schon gesehen bei den Worten „Es ist vollbracht“. Und wir sehen es hier wieder bei den Worten zum Pessachmahl. Jesus selbst gibt seinem Kreuzestod eine Bedeutung.
Und diese Bedeutung ist die, von der das Pessachfest redet: Die Rettung und die Befreiung aus Sklaverei. Welche Sklaverei? Die Sklaverei der Sünden.
Am Anfang des Evangeliums hatte der Engel gesagt: Er heißt Jesus, weil er sein Volk retten wird von seinen Sünden.
Und auch im späteren Leben Jesu spielt die Vergebung der Sünden immer wieder eine zentrale Rolle, sei es bei den Heilungserzählungen, bei seinen Mahlzeiten mit Zöllnern und Sündern, in seinen Gleichnissen und anderswo. Und wenn man danach sucht, wo Jesus die für das Pessach-Thema so zentralen Begriffe „Sklaverei und Freiheit“ verwendet, dann gibt es nur diese eine Stelle:
„Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. (…). Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei. (Joh 8,34-36)
Jesus hatte ein Ziel und einen Auftrag in seinem Leben: Sein Volk befreien aus der Sklaverei der Sünde. Und es hineinzuführen in die Freiheit des Reiches Gottes.
Und am Tag vor seinem Tod sagt er: Mein Blut wird für euch vergossen, zur Vergebung eurer Sünden. Das Blut hatte beim Pessachfest eine ganz besondere Bedeutung: Das Blut das hier vergossen wurde, war das Blut des Pessachlammes. Es wurde im Tempel Gott geopfert, und das Blut des Lammes wurde dann auf die Türpfosten des Hauses gestrichen.
Das erinnerte an die Nacht des Auszugs aus Ägypten, als Gott einen Engel des Gerichts durch Ägypten schickte. Und nur die Häuser, deren Türen markiert waren mit dem Blut des Lammes, die wurden verschont vom Gericht Gottes.
Dieses Bild, ausgerechnet dieses Bild, verwendet Jesus, um zu verdeutlichen, was am Kreuz passiert.
Bei allem Streit um die Bedeutung des Kreuzes können wir an diesen Worten nicht vorbei gehen, weil sie so zentral sind.
Es ist mit dieser Erzählung wie mit allen Geschichten des Neuen Testaments: Wenn wir sie herausschneiden aus ihrem größeren Zusammenhang, dann verlieren sie ihre Bedeutung. Dann wird das letzte Abendmahl zu einem Abschiedsessen Jesu mit seinen Freunden. Und das Kreuz nicht mehr als ein schrecklicher Ort der Hinrichtung. Vielleicht noch ein Ort, an dem wir uns solidarisieren können mit den Leidenden und den Opfern von Gewalt. Und das ist ja sicher AUCH ein wichtiger Aspekt des Kreuzes.
Aber das Pessachfest gibt den Worten Jesu, und damit dem Tod am Kreuz, eine darüber hinausgehende tiefere Bedeutung: Hier, an diesem Ort, geschieht die Rettung vor dem Gericht Gottes, weil Jesus sein Blut vergiesst wie ein Passalamm. Und: hier geschieht Befreiung und Rettung. Wovon? Nicht von den Ägyptern, und auch nicht von den Römern, sondern von der Macht der Sünde.
Ohne das jüdische Pessachfest geht uns diese Tiefendimension des Kreuzes verloren. Eine Tiefendimension, die dann auch der Auferstehung Jesu einen tieferen Sinn gibt.
Denn die geschah am dritten Tag danach.
Und was geschieht in der Geschichte des Exodus am dritten Tag nach der Nacht, in der die Lämmer geschlachtet wurden?
Nach Auskunft des antiken jüdischen Historikers Flavius Josephus gab es zur Zeit Jesu eine Auslegungstradition, der zufolge das Volk Israel am dritten Tag nach dem Schlachten der Pessachlämmer am Schilfmeer ankam:
„So zogen die Hebräer aus; die Ägypter aber weinten, denn es reute sie, dass sie die Hebräer so schlecht behandelt hatten. Diese nahmen ihren Weg durch Latopolis, das damals Wüste war und wo später zur Zeit, als Kambyses Ägypten verwüstete, Babylon erbaut wurde. Und da sie schnell marschierten, kürzten sie die Wege ab und gelangten schon am dritten Tage nach Baal-Zaphon am Roten Meere. (Flavius Josephus, Jüdische Altertümer 2:315)
Der dritte Tag des Festes erinnert also an den Durchzug durch das Meer. Und tatsächlich ist es ja so: Die Pessach Erzählung wäre unvollständig, wenn die Israeliten nur die Passalämmer geschlachtet hätten, und dann in Ägypten hocken geblieben wären. Dann wären sie nur wieder von neuem versklavt worden.
Nein, zur Erzählung vom Passalamm gehört die Erzählung vom Durchzug durch das Meer untrennbar dazu. Hier, am Ufer des Meeres, stehen die Israeliten vor dieser Wand aus Wasser, die ihnen scheinbar den Weg in die Zukunft und in die Freiheit versperrt. So wie die beiden Frauen am Beginn des dritten Tages. Die Mauer des Todes scheint unüberwindlich.
Aber dann geschieht das eigentliche Wunder der Pessacherzählung: Gott teilt das Meer und führt sein Volk hindurch ans andere Ufer. Der Pharao aber und alle Mächte des Todes, die ihnen noch im Nacken sitzen, werden endgültig vernichtet.
Die Verbindung von Pessachlamm und Durchzug durch das Meer hat ihre Entsprechung in der Verbindung von Karfreitag und Ostermorgen. Von Kreuz und Auferstehung. Von der Vergebung der Sünden und dem Aufbruch in ein neues, befreites Leben und der Herrschaft Gottes.
Jesus hat uns nicht nur befreit aus der Sklaverei der Sünde. Sondern er führt uns auch hinein in ein neues, befreites Leben. Das Leben in der kommenden Welt. Jesus durchschreitet die Barriere des Todes so wie das Volk Israel die Wellen des Meeres durschreitet. Und hier, an dieser Stelle beginnt der Weg in die Freiheit. In das neue Leben, das Gott bereit hält. Ein Leben mit Ewigkeitswert, weil selbst der Tod ihm nichts mehr anhaben kann. Paulus schreibt es später so:
„Er hat uns herausgerettet aus der Macht der Finsternis und hat uns hineinversetzt in das Reich seines geliebten Sohnes“ (Kol 1:13)
Die Auferstehung Jesu ist eine Einladung zum Aufbruch in eine neue Welt. Eine Einladung, ihm nachzufolgen auf diesem Weg in die Freiheit und in das neue Leben.
Eine Einladung, nicht einfach stehen zu bleiben vor dem leeren Grab. Egal, ob ängstlich oder staunend oder unschlüssig. Sondern der Einladung des Engels zu folgen:
„Er ist auferstanden von den Toten. Und siehe, er geht euch voran“ (Mt 28,7)
Das ist die Hoffnung, die uns bewegt. Es ist die Hoffnung, die von diesem Bibeltext ausgeht. Es ist die Hoffnung, die aus der Botschaft von Papst Franziskus spricht, die ich am Anfang zitiert habe:
Christus ist auferstanden! Diese Botschaft enthält den ganzen Sinn unseres Daseins, das nicht für den Tod, sondern für das Leben bestimmt ist.
Und es ist die Hoffnung, die zehntausende von Menschen an diesem Morgen hier in Hannover zusammenbringt, um diesen Bibeltext zu lesen und zu feiern.
Ich habe am Anfang meiner Bibelarbeit gesagt, dass wir biblische Erzählungen manchmal in einem zu kleinen Rahmen lesen. Herausgeschnitten aus ihrem größeren Kontext. Und ich habe versucht, heute einmal diesen Bibeltext hineinzustellen in den größeren Rahmen der biblischen Gesamterzählung, die mit der Schöpfung beginnt, sich im Exodus fortsetzt, ihren Mittelpunkt hat in Kreuz und Auferstehung und dann hineinführt in die kommende neue Welt Gottes, den ewigen Schabbat.
Ich glaube, nur dann, wenn wir wieder lernen, Bibeltexte so zu lesen, im großen Zusammenhang der Geschichte Gottes mit dieser Welt, dann verstehen wir in der Tiefe, worum es geht. Und dann entdecken wir die Sprengkraft, die in diesen kleinen Erzählungen steckt, weil sie Teil einer größeren Erzählung sind. Einer Erzählung der Liebe Gottes, die uns begleitet vom Anfang der Schöpfung bis hinein in die neue Welt Gottes. Und die uns befreit aus der Knechtschaft und hineinführt in die Freiheit der Kinder Gottes.
Und diese große Erzählung ist es, die uns dann auch für die kleinen Schritte mutmacht. Mut zum Aufbruch. Mutig, gestärkt und beherzt in den nächsten Tag zu gehen und selbst ein Teil dieser großen Geschichte zu werden.
Mit einer Hoffnung im Herzen, die uns zum Aufbruch bewegt.