
Gerhard Kittel war einer der einflussreichsten Professoren der neutestamentlichen Forschung zur Zeit des Nationalsozialismus. Sein Vorgänger auf dem Lehrstuhl in Tübingen war Adolf Schlatter, sein Nachfolger Otto Michel, beide dem pietistischen Erbe in Deutschland eng verbunden. Das von Kittel herausgegebene „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament“ ziert bis heute die Regale vieler Predigerinnen und Prediger und ist nach wie vor fast allgegenwärtiges Referenzwerk in deutschsprachigen Kommentarreihen.
Kittel bezeichnete das Neue Testament mehrfach als das „antijüdischste Buch der ganzen Welt“.[1] In einem vielbeachteten Vortrag aus dem Jahr 1933 sann er über mögliche Lösungen für die sogenannte „Judenfrage“ nach. „Alle Juden totschlagen“ sei keine Lösung, denn dies sei bereits der spanischen Inquisition und den russischen Pogromen „nicht gelungen“. Es bliebe daher nur die Lösung, durch strenge Rassegesetze und Einschränkung der Bürgerrechte das den Juden von Gott auferlegte Schicksal der „Zerstreuung und Fremdlingschaft“ in politische Realität umzusetzen.
Kittel selbst wäre es nie in den Sinn gekommen, solche Äußerungen als „judenfeindlich“ zu bezeichnen. Im Gegenteil: Noch nach dem Krieg berief er sich auf das Urteil seines langjährigen jüdischen Mitarbeiters Chaim Horovitz, der in eben jenem Jahr 1933 aus Deutschland fliehen musste (Kittel nannte es „auswandern“), und ihm noch beim Abschied gesagt habe: „Sie haben eine tiefere Liebe zu Israel und kennen das Wesen dieses Volkes besser als viele Namensjuden“.[2]
Kittel sah sich selbst Zeit seines Lebens als Freund der Juden an: Aus der Bewegung der „Deutschen Christen“ trat er, nach einer kurzen Phase der Begeisterung, bereits 1933 wieder aus. Forderungen, das Alte Testament aus der Bibel zu entfernen, wies er vehement zurück. Die Arbeit des Eisenacher „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf die Kirchen“, wie auch die Behauptung, Jesus sei ein Arier gewesen, lehnte er ab. Seine „tiefe Liebe zu Israel“ versuchte Kittel nach dem Krieg mit einem Verweis auf seine vielfältigen Freundschaften zu Juden zu belegen. Diese Beispiele belegten, „wie fern jeder ‚Judenhass’“ ihm gelegen habe. Seinetwegen sei „weder in direkter noch in indirekter Wirkung auch nur einem Juden auch nur ein einziges Haar gekrümmt worden“.
Wie passt Kittels Antijudaismus und seine vermeintliche „Liebe zu Israel“ zusammen? Kittel unterschied scharf zwischen einem „vulgären Rassenantisemitismus“ oder „Radauantisemitismus“, wie er sich in der völkischen Theologie der Deutschen Christen und in den gewaltsamen Übergriffen gegen Juden zeigte, und einem wissenschaftlich begründeten „klaren christlichen Antijudaismus“, der sich aus dem Neuen Testament ergebe und sich deshalb auf „die Weisungen Jesu Christi und seiner Apostel“ berufen könne. Die „neutestamentlich-urchristlichen Aussagen über den ‚Abfall‘ und ‚Fluch‘ und ‚Verwerfung‘ des Judentums“ etwa lägen „in den Worten Jesu Christi und der Apostel eindeutig vor“.
1. Was ist eigentlich Antijudaismus?
1.1. Antijudaismus und „Hass gegen Juden“
Antijudaismus und Judenhass werden häufig in eins gesetzt. Auch die Arbeitsdefinition für Antisemitismus, die von der „International Holocaust Remembrance Association“ (IHRA) erarbeitet und inzwischen auch von EU und Bundesregierung übernommen wurde, legt das nahe. Demnach ist Antisemitismus „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann“. Das Beispiel von Gerhard Kittel zeigt jedoch, dass Antijudaismus eben auch da vorliegen kann, wo man „eigentlich gar nichts gegen Juden hat“ oder sogar aufrichtig meint, Israel zu lieben.
Bis heute begegnet mir diese Form eines „exegetisch begründeten“ Antijudaismus in vielen christlichen Predigten. Oft gerade da, wo man stolz darauf ist, eine besondere Liebe zu Israel zu haben. Natürlich würde sich heute niemand mehr offen zu einem „christlichen Antijudaismus“ bezeichnen. Im Gegenteil: Wo immer ich heute in Gemeinden auf Beispiele antijüdischer Verkündigung aufmerksam mache, höre ich die Antwort: „Aber das ist noch nicht antijüdisch. Es steht doch so im Neuen Testament“.
Die Frage ist also komplexer: Wo genau beginnt Antijudaismus? Erst da, wo er mit Gewalt gegen Juden verbunden ist? Erst da, wo Hass gegen Juden im Spiel ist? Erst da, wo es antijüdisch „gemeint“ ist? Oder auch schon da, wo Juden abgewertet oder verzerrt dargestellt werden, sei es aus Unkenntnis, Vorurteil oder aus vermeintlich fundierter exegetischer Erkenntnis?
1.2. Antijudaismus und „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“
Beispiele aus anderen Bereichen der Vorurteils- und Rassismusforschung machen deutlich, dass das Bild vom „Hass“ nicht ausreicht: Ein Mensch, der Blondinenwitze erzählt, tut das in der Regel nicht, weil er blonde Frauen hasst. Sondern er benutzt das Stereotyp einer blonden Frau als Symbol für Dummheit. Würdigt er damit blonde Frauen herab? Ja. Trägt er zur weiteren Verbreitung des Klischees bei? Ja. Also sind diese Witze frauenfeindlich. Ein Vermieter, der Menschen anderer Hautfarbe bei der Vergabe seiner Wohnungen benachteiligt, tut das in der Regel nicht aus Hass gegen diese Menschen. Er befürchtet vielleicht unregelmäßige Mietzahlungen, fremde Gerüche im Treppenhaus oder eine Minderung des Mietwertes. Benachteiligt er damit Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe? Ja. Also handelt es sich um Rassismus, ganz gleich ob Hass gegen Fremde oder „nur“ Vorurteile, oder sogar marktwirtschaftliche Realitäten die Ursache sind. Und wenn vor deutschen Synagogen der Ruf „Juden raus“ skandiert wird, dann handelt es sich um Antisemitismus. Auch wenn gar nicht „die Juden“ gemeint sind, sondern es sich vermeintlich nur um legitime Kritik an der Politik des Staates Israel handelt.
Hilfreich ist hier vielleicht das Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF), das in einem langjährigen Forschungsprojekt der Universität Bielefeld entwickelt wurde und sich nicht nur mit Antisemitismus, Rassismus und Sexismus, sondern auch mit anderen Formen der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Abwertung beschäftigt.[3] Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist demnach durch drei Merkmale charakterisiert:
- Kategorisierung: Menschen werden zu einer scheinbar homogenen Gruppe zusammengefasst.
- Stereotypisierung: Den Menschen, die zu dieser Gruppe oder Kategorie gehören, werden kollektiv bestimmte Eigenschaften zugeschrieben.
- Abwertung: Die so beschriebenen stereotypen Eigenschaften der Gruppe werden negativ bewertet, vor allem im Vergleich zur eigenen Gruppe.
Das Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ fragt also weder nach den Motiven noch nach den Emotionen oder rationalen Argumenten für die Abwertung einer Gruppe. Es beschreibt lediglich die faktische Abwertung einer vermeintlich homogenen Menschengruppe durch Zuschreibung stereotyper Eigenschaften.
1.3. Antijudaismus, Antisemitismus und antijüdische Klischees
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegenüber Juden hat in der Geschichte ganz unterschiedliche Formen angenommen. Auch wenn man diese theoretisch voneinander unterscheiden kann, hängen sie doch in der Praxis untrennbar miteinander zusammen. Ein vorchristlicher Antijudaismus ist schon in griechischen und römischen Quellen zu finden: Juden wurde aufgrund ihres fremden Glaubens und ihrer eigenen religiösen Gesetze ein „Hass auf Menschen aller Völker“ und kollektive Fremdenfeindlichkeit vorgeworfen. Der spätere christliche Antijudaismus greift diese Tendenz auf, ergänzt sie aber durch ganz neue Linien: Schon im Neuen Testament erscheinen „die Juden“ und „die Pharisäer“ kollektiv als Gegner Jesu. Umstritten ist in der Forschung zwar, inwieweit einzelne Aussagen des Neuen Testaments Ausdruck eines grundsätzlichen Antijudaismus sind, ob es sich lediglich um innerjüdische Polemik handelt oder ob diese Passagen lediglich in ihrer Auslegungsgeschichte antijüdisch missdeutet wurden.[4] In jedem Fall aber bildete sich in den folgenden Jahrhunderten der traditionelle christliche Antijudaismus heraus, der die Juden als Gottesmörder und Verräter darstellte, die von Gott verworfen und zu ewiger Heimatlosigkeit verflucht seien. Die Kirche nahm in Gottes Heilsgeschichte den Platz Israels ein.
Hinzu kamen Motive eines politischen und kulturellen Antijudaismus, etwa der Vorwurf, Brunnen zu vergiften oder christliche Kinder rituell zu ermorden. Solche Vorwürfe führten dann auch zu gewaltsamen Übergriffen, Pogromen und systematischer Judenverfolgung und -vertreibung. Die Neuzeit brachte weitere Spielarten der Judenfeindschaft hervor: Der politische Antijudaismus bzw. Antisemitismus machte die Juden für Rationalismus, Liberalismus, Kapitalismus und Bolschewismus verantwortlich, man unterstellte dem „Weltjudentum“ die geheime Kontrolle über Banken und Medien und mangelnde Loyalität zu ihren Heimatländern. Der rassische Antisemitismus wiederum suchte nach biologischen Ursachen einer jüdischen Minderwertigkeit.
Auch in der Theologie entstanden jetzt neue Spielarten des Antijudaismus: Da die Bibelkritik der Aufklärung in Jesus weder einen jüdischen Messias noch einen vom Himmel gesandten Gottessohn erkennen konnte, erübrigten sich die traditionellen Vorwürfe des Christusmordes und der göttlichen Verwerfung Israels. Wo man in Jesus nur noch den Gründer einer neuen Religion oder den Lehrer einer besseren Moral sah, stand nicht mehr die Frage nach der Wahrheit des christlichen Glaubens, sondern nach seiner moralischen und religiösen Überlegenheit im Raum. Der religionsgeschichtliche Vergleich von Christentum und Judentum musste deshalb vor allem die Einzigartigkeit und Besonderheit Jesu herausstellen: Die Ethik des Christentums musste moderner, das Gebetsleben inniger, das Gottesbild aufgeklärter und die Gemeinde weltoffener sein. So entstanden auch in der Verkündigung neue antijüdische Klischees.
In der Zeit des Nationalsozialismus gab es daher ganz unterschiedliche Spielarten eines christlichen Antijudaismus: Anhänger einer traditionellen heilsgeschichtlichen Theologie setzten sich zwar für eine Kontinuität zum „biblischen Israel“ ein, sahen aber das spätere Judentum aufgrund seines Ungehorsams als verworfen an. Anhänger einer liberalen oder existentialistischen Exegese, darunter auch viele Theologen der „Bekennenden Kirche“, betrachteten das Judentum als eine niedrigere Stufe religiösen Denkens, die durch Jesus überwunden wurde. Anhänger einer völkischen Theologie, vor allem im Bereich der „Deutschen Christen“, betrachteten das Alte Testament und das Judentum aus biologistischen Gründen als minderwertig und versuchten, Jesus von beidem zu lösen. Auch wenn alle drei Gruppen ihre Ablehnung der Juden unterschiedlich begründen, blieben sie sich doch einig in ihrer antijüdischen Grundhaltung. Namhaften Widerstand gegen Verfolgung von Juden, soweit sie nicht zur christlichen Kirche gehörten, hat es deshalb aus keiner der drei Richtungen gegeben.
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs hat sich die Haltung gegenüber dem Judentum in den christlichen Kirchen grundlegend gewandelt. Einen völkischen oder rassischen Antijudaismus findet man heute in der christlichen Verkündigung nur noch selten. Auch die Motive des traditionellen christlichen Antijudaismus (Gottesmord, Verwerfung und Enterbung Israels) sind der Überzeugung einer bleibenden Erwählung Israels und eines ungekündigten Bundes gewichen. Hartnäckiger jedoch halten sich die aus der Aufklärungszeit stammenden Motive einer christlichen „Überlegenheit“ über das Judentum und einer Überwindung des Judentums durch Jesus und die ersten Christen. Auch die Klischees des politischen und kulturellen Antisemitismus (Fremdenhass, Geldgier, Menschenfeindlichkeit, Abgrenzung) finden bis heute Eingang in christliche Predigten. Auch und gerade da, wo man jeden Vorwurf des Judenhasses oder des Antisemitismus weit von sich weist. Antijudaismus geschieht heute in der christlichen Verkündigung weithin nicht mehr absichtlich. Aber auch unbewusst und unbeabsichtigt bleibt er eine Gefahr. Nicht nur für Jüdinnen und Juden, sondern auch für die christliche Gemeinde. Ein genauerer Blick auf verbreitete antijüdische Klischees in der christlichen Verkündigung lohnt sich deshalb.
2. Beispiele antijüdischer Klischees
Wovon reden wir also, wenn wir von antijüdischen Klischees in der christlichen Verkündigung reden? Folgt man dem Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, dann sind sie zu erkennen an drei Merkmalen:
- Kategorisierung: In christlichen Predigten beginnt sie meistens mit den Worten „Die Juden…“ oder „Die Pharisäer…“.
- Stereotypisierung: Sie findet sich in Formulierungen wie „Die Juden glaubten, dass…“, „Im Judentum war es üblich, dass…“, „Das jüdische Gottesbild ist…“.
- Abwertung: Sie geschieht meistens durch den Vergleich mit Jesus oder den ersten Christen: „Jesus dagegen…“, „Die ersten Christen waren ganz anders…“, „Jesus durchbrach/überwand/bekämpfte…“.
Die deutsche Bibelgesellschaft geht im Herbst 2021 mit einem neuartigen und innovativen Projekt an den Start: „Das Neue Testament: Jüdisch erklärt“ heißt die geplante Ausgabe des Neuen Testaments, die neben dem Luthertext Randkommentare von 80 jüdischen Autorinnen und Autoren enthält, außerdem 50 thematische Exkurse zu Fragen rund um das antike Judentum und die Geschichte des Judentums. Das englische Original wurde 2011 von den jüdischen Gelehrten Amy Jill Levine und Marc Zvi Brettler herausgegeben, die deutsche Ausgabe wurde noch einmal durchgesehen und ergänzt von führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Judaistik und der Theologie aus Deutschland. Das Buch sollte zukünftig eine Standard-Arbeitshilfe für die Vorbereitung von Predigten sein, die antijüdische Missverständnisse und Klischees vermeiden möchten.
Amy Jill Levine leitet die jüdisch kommentierte Bibelausgabe mit einem Grundsatzartikel ein, der die Überschrift trägt: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden: Verbreitete Irrtümer über das frühe Judentum.“ Darin benennt sie zehn der häufigsten antijüdischen Klischees, die ihr bis heute immer wieder in christlicher Verkündigung begegnen. Einige davon möchte ich im Folgenden vorstellen. Man mag nicht allem, was sie sagt, zustimmen. Aber in jedem Fall sollte man hinhören. Denn bei der Vermeidung antijüdischer Klischees geht es nicht nur darum, was wir – aus unserer christlichen Perspektive – als antijüdisch bewerten. Sondern wie es bei jüdischen Hörerinnen und Hörern ankommt.
Die folgende kurze Darstellung verbreiteter jüdischer Klischees folgt einem vierteiligen Schema, das ich grundsätzlich für die Identifikation und Prüfung solcher Klischees empfehle:[5]
- Die stereotype Darstellung des Judentums
- Die stereotype Darstellung des Christentums
- Der Faktencheck in jüdischen Quellen
- Der Faktencheck im Neuen Testament
2.1. Das gesetzliche Judentum
Christliche Predigten reden oft und gern davon, dass Juden unter dem Gesetz versklavt sind und unter der unerträglichen Last des Gesetzes leiden. Meistens erscheinen dabei Worte wie: Penibel, kleinlich, streng, minutiös. Die Vorstellung, dass das Gesetz für Juden eine Last darstellt, von der sie befreit werden müssen, wird dabei nicht aus jüdischen Quellen belegt, sondern durch Aussagen aus dem Neuen Testament, z.B. Apg 15,10 oder Gal 3,13. Dem gegenüber steht die Botschaft der „Freiheit vom Gesetz“, die man bei Jesus und Paulus zu finden glaubt. Und die (vermeintlich christliche) Einsicht, dass die Liebe wichtiger sei als das Gesetz.
Tatsächlich wird in der Mehrheit der jüdischen Quellen, und auch in der jüdischen Tradition heute, das Gesetz nicht als eine Last, sondern als Geschenk und als Privileg betrachtet. Die Liebe wird nicht als Gegensatz zum Gesetz gesehen, sondern als dessen Kern. Umgekehrt ist sich die neuere Jesusforschung weithin einig, dass Jesus weder den Sabbat noch jüdische Reinheitsgebote gebrochen hat. Zwar wird es ihm vorgeworfen, er selbst jedoch bestreitet es. Auch in der Paulusforschung mehren sich die Stimmen, die Paulus als einen zeitlebens gesetzestreu lebenden Juden sehen, der nicht die Freiheit vom Gesetz lehrt, sondern nur die Übertragung des jüdischen Gesetzes auf nichtjüdische Jesusnachfolger ablehnt.
2.2. Das werkgerechte Judentum
Nach Darstellung vieler Predigten geht es im Judentum darum, sich das Heil durch Gesetzesgehorsam und gute Werke selbst zu verdienen. Dem gegenüber steht die revolutionäre Botschaft von der Errettung allein aus Gnade, wie sie erst durch Jesus und Paulus gebracht werde.
Tatsächlich ist aber die Gnade Gottes bereits im Alten Testament allgegenwärtig. Die Erwählung des Volkes Israel und die Erlösung aus Ägypten geschehen nicht aufgrund von Verdiensten, sondern aus reiner Gnade. Auch der Bund mit Abraham geschieht nicht aufgrund von guten Werken, was durch die Beschneidung der Kinder am achten Tag verdeutlicht wird. Im Neuen Testament wiederum hat die Gnade zwar (ebenfalls) Vorrang vor den Werken, allerdings gehören auch hier die Werke ganz selbstverständlich, wie im Judentum, zum Glauben dazu.
2.3. Die ausgrenzenden Reinheitsgebote
Christliche Darstellungen der jüdischen Reinheitsgebote konzentrieren sich regelmäßig auf den Aspekt einer vermeintlichen sozialen Ächtung und Ausgrenzung von Unreinen. Man dürfe sie nicht berühren, nicht umarmen und nicht mit ihnen am Tisch sitzen. Aussätzige seien außerhalb der Städte in Aussätzigenkolonien verbannt worden. Unreinheit wird mit Abscheu, Ekel und Sünde verbunden und müsse gemieden werden. Jesus dagegen habe Reinheitsgebote nicht nur gebrochen und ignoriert, sondern sie würden im Neuen Testament ganz grundsätzlich aufgehoben, weil sie menschenfeindlich und ausgrenzend sind.
Tatsächlich ist in den biblischen Reinheitsgeboten, und auch in der jüdischen Tradition, Unreinheit weder mit Sünde noch mit Ekel verbunden. Es ist nicht verboten, sich zu verunreinigen. In vielen Fällen ist es sogar eine Verpflichtung (Geburt, Ehe, Bestattung). Fast alle Juden waren fast zu jeder Zeit des Tages unrein. Nur für den Besuch des Tempels war Reinheit notwendig und konnte durch entsprechende Reinigungen hergestellt werden. Aussätzige konnten heiraten, die Synagoge und den Markt besuchen und mit ihren Familien zusammenleben.
Im Neuen Testament wiederum werden Reinheitsgebote oder Speisegebote an keiner Stelle gebrochen oder aufgehoben. Die Berührung unreiner Menschen durch Jesus ist kein Wunder, sondern Alltag. Das Wunder in diesen Geschichten ist die Heilung, nicht die Berührung. Die Aufforderung an Petrus, zu schlachten und zu essen (Apg 10,13), ist kein Gesetzesbruch, da er aus einem Angebot von reinen und unreinen Tieren das Erlaubte auswählen konnte. Und beim umstrittenen Essen in Antiochia (Gal 2) werden weder Reinheits- noch Speisegebote als Konfliktpunkt benannt.
3.4. Das frauenfeindliche Judentum
Amy Jill Levine schreibt, in vielen christlichen Predigten herrsche „die Vorstellung, das Judentum sei so frauenfeindlich gewesen, dass die Taliban dagegen progressiv erscheinen“. So sei es im Judentum undenkbar oder ungewöhnlich, dass ein Rabbi mit einer Frau spreche, während Jesus Frauen und Männer gleich berechtigte.
Tatsächlich finden sich nicht nur im Alten Testament, sondern auch in vielen jüdischen Quellen Beispiele von starken, selbstständigen, gebildeten und einflussreichen Frauen. es gibt Rabbinen, die vor dem Gespräch mit fremden Frauen warnen, aber auch solche, die Lehrgespräche mit ihnen führen. Jesus gehörte offenbar zu letzteren, das macht ihn aber weder einzigartig noch unjüdisch. Zudem wählte auch Jesus ausschließlich Männer als seine Jünger aus. Jesus war ohne Zweifel frauenfreundlich, allerdings unterscheidet sein Umgang mit Frauen sich kaum von Beispielen ähnlicher Frauenfreundlichkeit, die wir aus anderen jüdischen Quellen kennen.
3.5. Das nationalistisch-militaristische Judentum
„Die Juden erwarteten einen Messias, der mit seinen Armeen die Römer aus dem Land vertreibt und ein irdisches Königreich in Jerusalem aufrichtet.“ Christliche Predigten reduzieren die Vielfalt jüdischer Endzeit- und Erlösungserwartungen meistens auf diese einfache Formel. Dem stellen sie dann einen Jesus gegenüber, der friedlich ist, statt Krieg zu führen, dessen Reich rein geistlich ist, der mit allen Völkern im Frieden lebt und für den deshalb auch Volk und Land Israel keine geistliche Relevanz mehr haben.
Tatsächlich findet man die Vorstellung eines militärischen Messiaskönigs in jüdischen Quellen recht selten. Daneben stehen Erwartungen einer himmlischen Erlösergestalt, priesterlicher Messiasse, weltweiter Friedensreiche, apokalyptischer Katastrophen und andere Zukunftserwartungen. Levine weist darauf hin, dass auch die Jünger Jesu Waffen bei sich tragen und davon auch Gebrauch machen, und dass Jesus seine Nachfolger sogar ausdrücklich auffordert, sich ein Schwert zu kaufen (Lk 22,36). Im christlichen Buch der Offenbarung werden zudem mehr Völker vernichtet als im ganzen Alten Testament zusammen, und die letzten Kapitel reden nicht vom neuen Nimmerland, sondern vom neuen Jerusalem.
3.6. Der ferne Gott des Judentums
Christliche Predigten stellen oft den entfernten, jenseitigen Gott des Judentums einem nahen und persönlichen Gott Jesu gegenüber. Vor allem die Anrede Gottes als Vater oder Abba wird als revolutionär und neu und als Ausdruck eines völlig anderen Gottesverhältnisses dargestellt. Auch hier zeigt ein Blick in jüdische Quellen und schon ins Alte Testament, dass sowohl die Gottesanrede als Vater als auch das Bild eines nahen Gottes im Judentum ebenso bekannt waren wie im Christentum. Umgekehrt finden sich auch im Neuen Testament Bilder vom erhabenen, heiligen, zornigen und strafenden Gott.
3.7. Das macht- und geldgierige Judentum
Christliche Predigten stellen den Tempel oft als einen Ort der finanziellen Ausbeutung dar und das jüdische Priestertum als eine geldgierige Finanzelite. Die Vertreibung der Händler und das Wort Jesu von der „Räuberhöhle“ zeige deshalb, dass Jesus das jüdische Tempelsystem grundsätzlich ablehnt. Der berühmte Vorhang im Tempel, der dazu diente, den Weg zu Gott zu versperren, zerriss in der Todesstunde Jesu, um endlich den Weg zu Gott freizumachen.
Aus jüdischen Quellen kennen wir zwar Klagen über korrupte Priester, aber keine Klage über das Tempelsystem oder die Abgaben für den Tempel als solche. Im Gegenteil, der Tempel ist wichtiger Mittelpunkt des religiösen Lebens und (trotz des Vorhangs!) ein Ort der lebendigen Begegnung mit Gott. Auch im Neuen Testament wird Jesus als treuer Besucher des Tempels dargestellt, ebenso wie die erste christliche Gemeinde. Die Vertreibung der Händler ist nach neueren Deutungen keine Kritik am Tempel, sondern ein prophetisches Zeichen der bevorstehenden Zerstörung. Der Vergleich mit der „Räuberhöhle“ stammt dagegen schon aus dem Alten Testament und ist keine Kritik am Tempel, sondern an denen, die dort eine falsche religiöse Sicherheit suchen, ohne ihr Leben zu ändern. Levine kommentiert: „Eine Räuberhöhle ist in der Regel nicht der Ort, an dem Verbrechen geschehen, sondern der Ort, an den die Räuber flüchten, weil sie sich dort sicher fühlen“.
3.8. Das fremdenfeindliche und rassistische Judentum
Häufig begegnet in christlichen Predigten das Bild vom ausgrenzenden Judentum. Das Alte Testament begrenze das Heil exklusiv auf das Volk Israel und verwehre anderen Völkern den Zugang zu Gott. Juden betrachteten andere Völker nicht nur als unrein, sie mieden auch die Begegnung mit Nichtjuden, besuchten nicht ihre Häuser und aßen nicht mit ihnen. Um das Land der Samariter machten sie einen weiten Bogen. Einen verletzten Ausländer am Wegesrand hätten sie nicht als ihren Nächsten betrachtet. Jesus dagegen durchbreche die Schranken der Fremdenfeindlichkeit, wenn er den Knecht eines römischen Hauptmanns heile und mit einer Samariterin rede. Petrus besucht mutig das Haus eines Römers und ißt sogar mit ihm, was eine heilsgeschichtliche Revolution darstelle. Paulus hebe sogar in Gal 3,28 die Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden grundsätzlich auf, so dass Israel seine Sonderstellung als erwähltes Volk verliert.
Dass die These vom jüdischen Heilsexklusivismus nicht stimmt, zeigt schon der Blick ins Alte Testament, in das Buch Ruth, das Buch Jona und die Verheißungen an Abraham und Jesaja. Prediger unterstellen deshalb dem Judentum der Zeit Jesu, diesen universalen Horizont des AT vergessen oder bewusst wieder eingeengt zu haben. Aber auch das lässt sich anhand von jüdischen Quellen nicht belegen. Die Existenz eines eigenen Vorhofs der Heiden im Jerusalemer Tempel zeigt, dass sogar der Tempelkult für Menschen anderer Völker offen stand. In jüdischen Quellen findet man viele Beispiele für gemeinsame Gespräche, gemeinsames Essen und gute Nachbarschaft von Juden und Römern oder Juden und Samaritern. Josephus berichtet ausdrücklich, dass der Weg durch Samaria für Juden aus Galiläa der übliche Weg nach Jerusalem war. Umgekehrt gilt für das Neue Testament: Der besondere Status des Volkes Israel wird hier weder aufgehoben noch gemindert. Paulus wirbt sogar für die Beibehaltung der Beschneidung bei Judenchristen (Apg 16,3; 1.Kor 7,20). In Gal 3,28 hebt er die Unterscheidung von Juden und Nichtjuden ebenso wenig auf wie die Unterscheidung von Männern und Frauen.
3. Die Funktionalisierung antijüdischer Klischees in der christlichen Verkündigung
Man kann über einzelne Beobachtungen von Amy Jill Levine diskutieren und ihre Berechtigung in Frage stellen. Dazu muss man viele einzelne Texte noch einmal mit neuer Brille und vor dem Hintergrund jüdischer Quellen neu lesen, wofür hier kein Platz ist. Ganz sicherlich sollte man nicht den Fehler machen, alte Klischees durch neue zu ersetzen: „Juden waren nicht frauenfeindlich, sondern frauenfreundlich. Juden waren nicht gesetzlich, sondern gnädig. Juden waren nicht fremdenfeindlich, sondern weltoffen.“ Die historische Wahrheit ist vermutlich komplexer: Es gab frauenfeindliche und frauenfreundliche, fremdenfeindliche und weltoffene, gesetzliche und liberale Juden, so wie es all diese Schattierungen auch im Christentum gibt. In den allermeisten der genannten Fälle gibt es aber keinen Grund, „das Judentum“ pauschal gegen „das Christentum“ auszuspielen. Die Notwendigkeit, eine moralische oder religiöse Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum nachzuweisen, besteht überhaupt erst seit der Aufklärung. Denn sie wird erst dann notwendig, wenn man die heilsgeschichtliche Einzigartigkeit Jesu als Messias Israels und als Sohn Gottes aufgegeben hat und nach anderen Wegen sucht, die Besonderheit Jesu oder des Christentums zu begründen. Wer dagegen davon überzeugt ist, dass der eine Gott Israels im Alten wie im Neuen Testament spricht und handelt, der sollte kein Problem damit haben, den Glauben des Judentums und den Gehorsam gegenüber Gottes Geboten als etwas Gutes und Richtiges anzuerkennen.
Viel spannender ist daher die Frage, warum christliche Predigten heute immer noch so viele antijüdische Klischees verwenden. Und das, obwohl diejenigen, die da predigen, sicherlich weder den traditionellen christlichen Antijudaismus noch den modernen politischen Antisemitismus teilen. Welche Funktion haben diese antijüdischen Klischees also in der christlichen Predigt? Die Antwort ist: Sie richten sich meistens gar nicht gegen Juden, so wie sich Blondinenwitze nicht gegen blonde Frauen richten. Die Juden stehen vielmehr meistens als Symbol für ganz andere Gegner: Für falsche Religiosität, für gegnerische christliche Gruppierungen, für „die Anderen“ im Allgemeinen. Martin Luther zum Beispiel schrieb in seinem Kommentar zum Galaterbrief: „Unsere Juden, das sind die Katholiken“.[6] Heute sind es nicht mehr die Katholiken, sondern ganz andere Gegner. Mir sind, bei vielen Gemeindebesuchen und in vielen Podcast- und Onlineangeboten aus dem Umfeld des kirchlichen Pietismus, im Laufe der Jahre vor allem drei charakteristische Typen antijüdischer Klischees begegnet:
3.1. Der klassisch pietistische Typ
Für den klassisch pietistischen Predigttyp dienen die Juden als Code für den unbekehrten oder nicht erweckten Menschen. Für ein als tote Religion empfundenes kirchliches Namenschristentum. Hier wird vor allem auf das Klischee der jüdischen Werkgerechtigkeit zurückgegriffen, und es dient als Sprungbrett für die Verkündigung des reformatorischen Evangeliums von der Errettung allein aus Glauben und durch Gnade, nicht durch fromme Werke. Waren für Luther vor allem die Katholiken „unsere Juden“, sind es für den frommen Pietisten die Namenschristen im Allgemeinen.
Natürlich spielt in dieser Predigt auch das Klischee der Ausgrenzung eine Rolle, sei es die Ausgrenzung der Unreinen, der Frauen oder der Fremden: Du musst keine Bedingungen erfüllen oder Leistungen erbringen, sondern bist aus Gnade angenommen! Die Gesetzlichkeit des Judentums wiederum steht für das Bemühen des religiösen Menschen, „ein guter Mensch zu sein“, der Tempelkult als Bild für amtskirchliche Erstarrung. Das Bild vom fernen Gott des Judentums ist Bild für einen unpersönlichen Glauben an den „Herrgott“, während die Jesus die persönliche Herzensbeziehung zu Gott eröffnet. Der Vorhang falscher Religiosität, der die Menschen von Gott trennte, zerreißt und öffnet den Weg zu einer lebendigen, erweckten und pietistischen Frömmigkeit, wie man sie in der neutestamentlichen Urgemeinde zu finden meint. Der liturgische Tempelgottesdienst wird zur Räuberhöhle erklärt und ersetzt durch die bibellesende und frei betende Hausgemeinde.
Antijüdische Klischees vermeiden heißt für den klassischen Typus: Anerkennen, dass auch Juden lebendig glauben, nur in manchen Fragen anders als Christen. Und lernen, dass für Jesus Liturgie und Herzensbeziehung, Glaube und Werke, äußere Form und innere Haltung sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen.
3.2. Der pietismuskritische Typ
Die schrittweise Überwindung des traditionellen christlichen Antijudaismus nach dem zweiten Weltkrieg hat dazu geführt, dass mehr und mehr Predigerinnen und Prediger versuchen, das Klischee vom „ungläubigen und verstockten Juden“ zu vermeiden. Sie ersetzen es deshalb oft durch das Klischee vom „besonders frommen Juden“: Juden werden gelobt für ihren Gesetzesgehorsam und ihre Frömmigkeit. Dann jedoch wird deutlich, dass diese Frömmigkeit in Wirklichkeit engstirnig, menschenfeindlich und verklemmt ist. Und der fromme Jude wird zum Sinnbild des frommen Pietisten. Frauenfeindlichkeit, angstbesetzte Reinheitsgebote und die Abgrenzung von der nichtjüdischen Welt werden als Spiegelbild pietistischer Frömmigkeit gedeutet. Oft getarnt als Selbstkritik am „eigenen Stall“, zeigt der Finger dann aber doch am Ende meist auf „die Anderen“. Nämlich auf diejenigen Christen, die man als gesetzlicher, konservativer und engstirniger empfindet als sich selbst.
Jesus und Paulus dagegen bringen die Freiheit vom Gesetz, also auch von einem gesetzlichen Christentum. Die Liebe rückt an die Stelle der Gebote, der vermeintliche Bruch mit Sabbat-, Speise- und Reinheitsgeboten wird zum Paradigma für Grenzüberschreitungen und Normverschiebungen der Moderne. Eine rückständige jüdische Gebotsethik wird einer fortschrittlichen paulinischen Gewissens- oder Verantwortungsethik entgegengestellt. Und die vermeintliche Aufhebung der biblischen Speisegebote in Apg 10 wird zum Symbol der Wandelbarkeit göttlicher Gebote und der Zeitbedingtheit biblischer Normen.
Eine pietismuskritische Predigt, die antijüdische Klischees vermeiden will, sollte anerkennen, dass nach dem heutigen Stand der Forschung im Neuen Testament weder von Jesus noch von Paulus biblische Gebote oder jüdische Gesetze gebrochen werden. Und sie muss lernen, dass schon das antike Judentum sich auf die Kunst der Schrifthermeneutik verstand: Nicht die Überschreitung oder Aufhebung von Geboten, sondern ihre jeweils neue Auslegung und Anwendung auf immer neue Situationen ist die jüdische wie auch die neutestamentliche Antwort auf die Herausforderung des geschichtlichen Wandels.
3.3. Der herrschaftskritische Typus
Ein dritter Typ antijüdischer Klischees entstand aus den Protestbewegungen der 1968er Jahre und gründet sich vor allem auf das Bild vom exklusiven und ausgrenzenden Judentum. Nicht die religiösen Fragen, sondern Fragen gesellschaftlicher Macht und Teilhabe stehen dabei im Mittelpunkt, sowie die Kritik an unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung oder Unterdrückung: So steht die vermeintliche jüdische Frauenfeindlichkeit für alle Formen des Sexismus, die Reinheitsgebote sind Bild für die Ausgrenzung gesellschaftlicher Minderheiten. Die jüdische Abgrenzung gegenüber Nichtjuden ist Sinnbild für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die theologische Aufwertung des Landes ein Bild für Kolonialismus und Imperialismus (in der Gestalt des Zionismus), die des Volkes ein Bild für falschen Nationalismus. Der Tempel dient als Bild für Kapitalismus und Ausbeutung.
Jesus und die ersten Christen dagegen sind das Sinnbild einer egalitären und herrschaftsfreien Gesellschaft, in der jeder dazugehört, Unterschiede von Glaube, Geschlecht, Klasse oder ethnischer Herkunft keine Rolle mehr spielen, ebenso wenig wie irdischer Besitz, Land oder Volkszugehörigkeit. Jüdische Identität löst sich auf in eine allgemeine Menschheitsidentität. Der vermeintliche jüdische Heilsexklusivismus, der natürlich als Sinnbild eines christlichen Exklusivismus dient, wird überwunden durch einen weltoffenen christlichen Heilsuniversalismus, der nicht nur andere Völker, sondern auch andere Religionen einschließt.
Wenn der herrschaftskritische Typus antijüdische Klischees überwinden will, dann muss er sich neu den historischen Quellen zuwenden und Stereotype vom ausgrenzenden, fremdenfeindlichen, machthungrigen und exklusiven Judentum in Frage stellen. Er muss sehen, dass Modelle der Gütergemeinschaft auch in der jüdischen Welt existierten, dass Jesus sich mehr mit reichen Menschen als mit armen umgeben hat, dass viele Gleichnisse und Reden Jesu mit der Unterscheidung von „drinnen“ und „draußen“ enden, und dass Frauen auch im frühen Christentum alles andere als gleichberechtigt waren. Vor allem aber muss er lernen, dass die vielzitierte Botschaft „in Christus gibt es keine Juden mehr“ (Gal 3:28), wenn man sie so deutet, für jüdische Ohren kein erstrebenswertes Ziel, sondern ein bedrohliches Auslöschungsszenario darstellt. Wenn die Auflösung jüdischer Identität von Christen immer noch als Konsequenz des Evangeliums gefeiert wird, dann darf man sich nicht wundern, wenn jüdische Vertreter christliche Mission als einen „Holocaust mit anderen Mitteln“ bezeichnen.
4. Fazit
„Gut gemeint, doch schlecht gemacht“, heißt es in einem alten christlichen Schlager. Antijüdische Klischees in christlichen Predigten sind meistens weder böse gemeint, noch richten sie sich eigentlich gegen Juden. Vielmehr werden antijüdische Stereotype als kultureller Code benutzt, um die jeweils „Anderen“ als böse darzustellen und die eigene Gruppe als überlegen. Damit jedoch tragen sie nicht nur zur Herabwürdigung von Jüdinnen und Juden, sondern auch zur weiteren Verbreitung und Festigung antijüdischer Stereotype in den Köpfen bei. Ungewollt machen sich die Predigenden damit zu einem Komplizen des neu erwachenden gesellschaftlichen Antisemitismus.
Eine sorgsame und differenzierte Beschäftigung mit den antiken Quellen, eine kritische Prüfung überkommener Predigerlegenden und veralteter Lexikoneinträge, eine anhaltende Beobachtung exegetischer Forschung, aber auch der lebendige Austausch mit jüdischen Gesprächspartnerinnen und -partnern, oder zumindest die Konsultation jüdischer Internetseiten, Lexika und Fachbücher, kann dabei helfen, hartnäckige Vorurteile und Klischees zu überwinden. Pauschalisierungen sollten vermeiden werden. Statt „Die Juden dachten damals, dass…“ reicht es häufig, zu formulieren: „In diesem Text gibt es einige Gegner, die…“. Statt „Juden glaubten dies oder das“, ist es meistens richtiger zu sagen: „Es gab manche Juden, die glaubten dies. Andere glaubten aber auch das.“
Natürlich kann es nicht darum gehen, alle Unterschiede und Konflikte zwischen Judentum und Christentum einzuebnen. Aber ein Vermeiden von falschen Gegensätzen, von Klischees und Stereotypen, kann dabei helfen, die wirklich relevanten Differenzen besser zu erkennen und zu benennen. Das ermöglicht einen ehrlichen Dialog miteinander, in dem nicht einer den anderen herabwürdigt, sondern beide Seiten voneinander lernen können. In dem es nicht um den Nachweis der Überlegenheit geht, sondern um die gemeinsame Suche nach der Wahrheit.
Guido Baltes (Jg. 1968) ist verheiratet mit Steffi und Pfarrer der EKKW. Er arbeitet als Dozent für Bibel und Verkündigung am MBS Bibelseminar (Marburg) und ist Lehrbeauftragter für Neues Testament an der Philipps-Universität Marburg und der EH Tabor.
Quelle: Guido Baltes, „Antijüdische Klischees in der christlichen Predigt“, Akzente für Verkündigung und Theologie 116.3 (2021), S. 116-128
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[1] Gerhard Kittel, Die Judenfrage (Stuttgart 1933), 56. Die folgenden Zitate ebd., 14 und 74.
[2] Gerhard Kittel, „Meine Rechtfertigung“ (1946), jetzt hg. von Matthias Morgenstern und Alon Segev, Gerhard Kittels Verteidigung (Berlin 2019), 129. Zitate im Folgenden ebd., 137, 40, 115, 87, 28, 150 und 52.
[3] Andreas Zick, Beate Küpper, Andreas Hövermann: Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung (Berlin 2011), 31-43
[4] Die komplexe Frage nach Antijudaismus im Neuen Testament ist wichtig und zentral. Sie ist aber nicht Thema dieses Artikels und wird deshalb hier nicht vertieft.
[5] Eine ausführliche exegetische Prüfung der jeweiligen Klischees anhand von jüdischen Quellen und neutestamentlichen Texten ist hier nicht möglich. Ich verweise auf die erwähnte jüdisch kommentierte NT-Ausgabe sowie auf Guido Baltes, Jesus der Jude (Marburg 2012) und Paulus: Jude mit Mission (Marburg 2016).
[6] Kommentar zum Galaterbrief (1532), WA 40/1, 336.