Von Guido Baltes

Eigentlich weiß ich, dass es ein Fehler ist, über dieses Thema zu schreiben. Denn die Meinungen unter Christen gehen hier so weit auseinander, dass man sich eigentlich nur in die Nesseln setzen kann. Das allein wäre noch nicht schlimm.

Schlimmer ist es aber, wegen solcher Konflikte Freunde zu verlieren. Und leider gehört das Thema Israel zu den wenigen aktuellen Streitfragen, bei denen für viele Christen die Freundschaft aufhört und Beziehungen zerbrechen.

Da sind auf der einen Seite die, die nicht nur in der Gründung des Staates Israel vor 70 Jahren, sondern auch in fast allen anderen Ereignissen der Nahostpolitik ein wunderbares Handeln Gottes und eine wortwörtliche Erfüllung biblischer Prophezeiungen erkennen. Jede gewonnene Schlacht, jeder gepflanzte Baum, jeder Sieg im Fußballspiel und jede technologische Errungenschaft Israels wird dann zu einem Erweis der Hilfe Gottes und der Zuverlässigkeit der Bibel. Wer diese Sicht Israels nicht teilt, der steht schnell im Verdacht, ein Bibelverräter, Gottesleugner oder Antisemit zu sein.

Auf der anderen Seite dagegen stehen die, die jeden Bezug zwischen Bibel und aktuellen Ereignissen grundsätzlich leugnen. Das moderne Israel, so sagen sie, habe wenig oder nichts zu tun mit dem Israel der Bibel. Biblische Prophetien bezögen sich nur auf die Zeit, in der die jeweiligen Propheten lebten, oder vielleicht noch auf Jesus. Aber nicht auf die Tagespolitik von heute. Die Gründung des Staates Israel sei ein Ergebnis menschlicher Politik und kein göttliches Wunder. Gott dagegen stehe im heutigen Konflikt eher auf der Seite der Seite der Schwächeren und Ärmeren, also der Feinde Israels. Wenn man diese Meinung nicht teilt, steht man schnell im Verdacht, ein Fundamentalist, Rassist oder Menschenrechtsverletzer zu sein.

Ich habe mich immer schwer getan, mich einer dieser beiden Seiten anzuschließen. Auch wenn christliche Freunde auf beiden Seiten das immer wieder ganz selbstverständlich erwarten, voraussetzen oder verlangen. Sowohl die Realität des heutigen Israel als auch die biblischen Texte sind komplexer und vielschichtiger, als diese einfachen Antworten es nahelegen. Aber komplex ist natürlich langweilig. Nur wer alles auf eine smarte Formel bringen kann, der kann heute punkten. Ich hoffe aber dennoch, dass ich nicht allzu viele Leser verliere, wenn es jetzt ein wenig ans Eingemachte geht. Und ich bitte um Barmherzigkeit und Gelassenheit bei meinen Freunden und Lesern auf beiden Seiten des Streites.

Ein Zeichen der Treue Gottes

Für mich steht außer Frage, dass die Neugründung des Staates Israel eine erstaunliche Erfüllung biblischer Verheißungen und ein Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk darstellt. Die Evangelische Kirche im Rheinland, aus der ich komme, hat bereits 1980 in einer bahnbrechenden Erklärung formuliert, dass „die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk Israel sind“. Manche andere Kirchen sind da zögerlicher: Sie würden gerne die Frage der Bundestreue Gottes zu seinem Volk von der Frage der Landverheißung trennen. In der Bibel sind beide aber untrennbar mit einander verbunden (1. Mose 12,1-3; 15,15-27). Manche Ausleger gehen zwar davon aus, dass die alttestamentlichen Landverheißungen im Neuen Testament aufgehoben werden, und das irdische „Land“ durch das rein geistlich verstandene „Reich Gottes“ ersetzt wird. Zur Begründung können sie aber nicht auf konkrete Bibeltexte verweisen, in denen die Landverheißungen zurückgenommen werden, sondern nur darauf, dass sie nicht ausdrücklich wiederholt werden. Meines Erachtens reicht aber ein solches „Argument aus dem Schweigen“ nicht aus. Vor allem deshalb nicht, weil ausdrücklich gesagt wird, dass in Gott in Christus sein Ja und Amen zu allen seinen Verheißungen gesprochen hat, und insbesondere die Verheißungen an Israel nicht hinfällig geworden sind (Römer 9,4-5). Es gibt auch keinen Grund, die Landverheißung von Jesus in Matthäus 5,5 weniger irdisch zu verstehen als vergleichbare Formulierungen des Alten Testaments. Hier sollte man also nicht das Neue gegen das Alte Testament ausspielen.

Eine Geschichte der Treue

Nach den Zerstörungen Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar (586 v. Chr.) und den römischen Feldherrn Titus (70 n. Chr.) waren es diese biblischen Verheißungen, die den Glauben und das Leben des jüdischen Volkes nachhaltig geprägt haben. Die Gebete in den Synagogen sprachen davon, die Lieder an den jüdischen Festen sangen davon. Und in Israel selbst haben sich durch alle Jahrhunderte hindurch Zentren der jüdischen Gelehrsamkeit und eine jüdische Bevölkerung gehalten. Der Wunsch nach Rückkehr in das Land Israel ist also nicht erst das Produkt eines modernen Nationalismus oder die Folge der europäischen Verfolgung. Er wurde vielleicht durch diese Entwicklungen verstärkt und seine Verwirklichung erst dadurch möglich. Für Juden aber war die Hoffnung auf Rückkehr und die Zugehörigkeit zum Land Israel immer ein zentraler Bestandteil ihres Glaubens. Man muss daher kein Fundamentalist oder Israel-Freak sein, um der nüchternen Feststellung zuzustimmen, die führende jüdische Repräsentanten im Jahr 2000 in der Erklärung „Dabru Emet“ formuliert haben: „Christen können den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel respektieren. […] Als Angehörige einer biblisch begründeten Religion wissen Christen zu würdigen, dass Israel den Juden als physisches Zentrum des Bundes zwischen ihnen und Gott versprochen und gegeben wurde. Viele Christen unterstützen den Staat Israel deshalb aus weit tiefer liegenden als nur rein politischen Gründen.“

Und ich habe tatsächlich so manches Mal in der Altstadt von Jerusalem gestanden, dem bunten Treiben auf den Spielplätzen und Straßencafés zugesehen und dabei gestaunt, wie aktuell die alten Worte des Propheten Sacharja hier klingen: „So spricht der Herr, der Allmächtige: ‚Alte Männer und Frauen werden wieder auf den Plätzen Jerusalems zusammensitzen, jeder mit dem Stock in der Hand, wegen ihres hohen Alters. Und die Plätze der Stadt werden voller Jungen und Mädchen sein, die dort spielen.‘ So spricht der Herr, der Allmächtige: ‚Sollte mir das unmöglich erscheinen, nur weil es dem Volk, das in diesen Tagen übrig geblieben ist, unmöglich erscheint?‘, spricht der Herr, der Allmächtige. So spricht der Herr, der Allmächtige: ‚Ja, ich werde mein Volk aus dem Land im Osten und aus dem Land im Westen befreien. Ich hole die Menschen nach Hause und sie sollen in Jerusalem wohnen. Sie werden mein Volk sein, und ich werde ihr Gott sein in Treue und Gerechtigkeit.‘“ (Sacharja 8,4-7).

Kein biblischer Detailplan

Andererseits jedoch beschreiben die biblischen Verheißungen eben keinen göttlichen Detailplan für ihre konkrete Umsetzung. Ganz im Gegenteil: Sehr oft wird schon in der Bibel erst im Nachhinein klar, auf welche Weise sich biblische Verheißungen erfüllt haben, und nicht selten auf ganz andere Weise als von den Beteiligten angenommen (Matthäus 2,15; Lukas 24,25-27). Gottes Verheißungen sind eben anders als die Rätselsprüche von Nostradamus, die man als verschlüsselte Geheimbotschaften für die Gegenwart lesen muss. Es wäre deshalb unredlich, den UN-Teilungsplan von 1947 oder die Eroberung Jerusalems 1967 als eine Erfüllung biblischer Prophetie zu feiern, aber die Oslo-Verträge von 1993 oder den Gaza-Abzug 2004 als das Ergebnis schlechter Politik oder als Werk des Teufels. Alle diese Ereignisse waren das Ergebnis menschlicher Politik und diplomatischer Sachzwänge, und alle diese Ereignisse stehen nur in einem sehr gebrochenen Verhältnis zu biblischen Land- und Friedensverheißungen: Sie verwirklichen manches von dem, was in der Bibel verheißen ist, manches aber auch nicht. Ob und inwiefern Gott bei solchen Entscheidungen seine Hände im Spiel hat, ist deshalb für uns als Menschen nur schwer zu erkennen und zu entscheiden.

Natürlich ist es möglich, ganz viele erstaunliche Übereinstimmungen zwischen aktuellen Ereignissen in Israel und einzelnen biblischen Versen zu finden. Sehr oft aber reden diese Verse, liest man sie im Zusammenhang, von ganz anderen Zeiten oder Zusammenhängen und sagen auch etwas ganz anderes aus. Vor allem aber muss man sich die ehrliche Frage stellen, warum man stets nur die überraschenden Übereinstimmungen zwischen Bibel und Gegenwart feiert, aber die vielen krassen Widersprüche nicht ebenso laut beim Namen nennt: So sprechen die biblischen Verheißungen eben auch davon, dass das Volk Israel nach seiner Rückkehr in die Heimat in Frieden leben wird. Dass es keine Feindschaft mehr geben wird, keine Armut und keine Tränen. Dass alle an den Messias glauben werden. Dass sie auf die Worte des Herrn hören werden und dass sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden. All diese Verheißungen bleiben (bisher) noch unerfüllt. Warum aber sieht man dann in der Staatsgründung von 1948 zwar einen unwiderlegbaren Beweis für das Handeln Gottes, dagegen im Holocaust, der sich nur wenige Jahre vorher ereignete, nicht?

Findige Bibelausleger können solche Widersprüche zwar durch einen besonderen Zeitplan Gottes erklären, dem zufolge manche Verheißungen schon jetzt, andere aber erst später erfüllt werden. Das Problem ist nur, dass die Bibel solche konkreten Zeitpläne und Programme eben nicht enthält. Sie lassen sich oft nur durch komplizierte Verknüpfungen einzelner Verse, Zahlen und Daten erstellen, die den Texten in ihrer Eigenart nicht gerecht werden. Es ist daher besser, auf solche Detailpläne zu verzichten. Ja, in der Geschichte des Volkes Israel durch die Zeiten hindurch, und auch in der Rückkehr in das verheißene Land kann man im Rückblick einen roten Faden der Treue Gottes erkennen. Einzelne tagespolitische Ereignisse, Entwicklungen oder Entscheidungen aber auf das Werk Gottes oder des Teufels, auf menschlichen Ungehorsam oder Glaubensstärke zurückzuführen, wird für uns kaum möglich sein. Und das ist auch nicht unsere Aufgabe (Matthäus 7,1; Römer 2,1-10).

Abraham als Vater der Verheißung

Das komplexe Wesen biblischer Verheißung kann man schon im Leben Abrahams erkennen, der ja der erste Empfänger der Landverheißung war: Gott hatte ihm das Land zwar versprochen, aber dennoch lag es an ihm, hineinzugehen. Gott hatte ihm zwar Nachkommen verheißen, aber auch die kamen nicht von selbst, sondern mussten erst noch gezeugt werden. Göttliche Verheißung und menschliche Verantwortung hängen also eng zusammen. Für uns als Menschen ist es aber oft nicht so ganz leicht herauszufinden, an welcher Stelle wir geduldig auf die Erfüllung der Verheißung warten sollen und an welcher Stelle wir nach Kräften nachhelfen sollen. So war Abraham bestimmt der festen Überzeugung, Gottes Verheißungen zu erfüllen, als er mit Hagar, der Sklavin seiner Frau, ein Kind zeugte. Und zusammen mit Sara jubelte er bei der Geburt Ismaels über die wunderbare Erfüllung der Zusagen Gottes. Erst im Nachhinein stellte sich heraus, dass diese herbeigezwungene Erfüllung noch nicht das war, was Gott sich eigentlich gedacht hatte. Zwar lag auch auf Ismael und Hagar der Segen Gottes, aber die tatsächliche Erfüllung der Verheißung stellte sich erst später ein. So können manche von Menschen errungenen (scheinbaren) Erfüllungen auch manchmal Enttäuschungen mit sich bringen. Und erst im Nachhinein wird deutlich, wie Gottes Wege wirklich waren. Die vorläufigen und teilweisen Erfüllungen, die wir unterwegs erleben, bringen aber beides mit sich: Segen und Konflikt, Freude und Leiden.

Versprochenes Land – höflich erworben

Auch im Blick auf die Erfüllung der Landverheißung können wir einiges von Abraham lernen: So hatte ihm Gott das Land zwar versprochen, für Abraham bedeutete dies aber nicht, dass es nun sofort ihm gehörte. Im Gegenteil: Er blieb Zeit seines Lebens ein Fremder im Land. Und erst am Ende seines Lebens konnte er ein Stück dieses verheißenen Landes sein Eigen nennen. Der Kauf der Höhle Machpela ist dabei ein ganz beeindruckender Vorgang: Das Land wird von Abraham – trotz Verheißung – weder erobert noch beansprucht. Und selbst das Angebot der Hethiter, ihm das Land zu schenken, schlägt Abraham aus. Er besteht darauf, es auf ordentlichem, höflichem, menschlichem Weg käuflich zu erwerben und einen angemessenen Preis zu zahlen. Die gegenseitige Ehrfurcht, mit der Abraham und der Hethiter Efron sich begegnen und mit der sie die göttliche Verheißung auf menschliche Weise in die Tat umsetzen, könnte ein Anhaltspunkt dafür sein, wie auch heute biblische Verheißung und politische Realität zusammenfinden könnten.

Hat sich Gottes Verheißung mit dem Kauf der Höhle Machpela auf wunderbare Weise erfüllt? Ja und nein. Teilweise und noch unvollkommen. Hat sie sich erfüllt, als die Israeliten unter Josua das Land einnahmen? Ja und nein. Teilweise und noch unvollkommen. Hat sie sich erfüllt, als die Israeliten aus dem babylonischen Exil in ihr Land zurückkehrten? Ja und nein. Teilweise und noch unvollkommen. Hat sie sie sich erfüllt, als Jesus alle Gewalt beanspruche, im Himmel und auf der Erde (auch hier steht übrigens das biblische Wort für „Land“)? Ja und nein. Teilweise und noch unvollkommen. Hat sie sich erfüllt, als im Jahr 1948 der Staat Israel ausgerufen wurde? Ja und Nein. Teilweise und noch unvollkommen.

Gott erweist seine Treue inmitten unserer Untreue. Und deshalb sind wir als Christen aufgerufen, dankbar und voll Staunen auf die bereits jetzt sichtbaren Zeichen seiner Treue zu blicken, auch in und für Israel. Und gleichzeitig im Hören auf Gottes Reden dafür zu beten und aktiv dafür einzutreten, dass sich erfüllt, was wir bisher noch nicht sehen, aber worauf wir hoffen: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch hier auf Erden.“

Verheissung, Erfüllung und Enttäuschung
Der moderne Staat Israel und die biblische Prophetie
In: Faszination Bibel 3/2018, S. 8-11
01.10.2018