Jesus und die Zöllner

Immer wieder hört man in Predigten und Bibelauslegungen, dass Zöllner im Judentum „ausgegrenzt“, „geächtet“, „ausgestoßen“ oder „verhasst“ waren. Aber war das Judentum wirklich eine so ausgrenzende Religion?

„Jeder fromme Jude“ ging den Geächteten aus dem Weg, so liest man oft. Das gilt für Zöllner und Aussätzige, Samariter und Römer und manchmal auch für Sünder und Frauen. Wenn das wahr ist, dann war im Judentum zur Zeit Jesu also fast jeder ein „Außenseiter“, und als frommer Jude musste man so ziemlich jedem aus dem Weg gehen, dem man auf der Straße begegnete. Stimmt das wirklich? Oder haben sich hier nur alte Klischees aus einer langen Geschichte der christlichen Judenfeindlichkeit in unseren Köpfen gehalten?

Dass der „Hass auf das ganze Menschengeschlecht“ ein besonderes Kennzeichen der Juden war, ist ein alter Vorwurf, den schon die Römer kannten. Der Historiker Tacitus schreibt etwa: „Die Juden verhalten sich sehr loyal gegenüber ihresgleichen und sind immer bereit, Mitleid zu zeigen. Aber allen anderen gegenüber fühlen sie nur Hass und Feindschaft.“

Andere antike Schriftsteller stoßen in das gleiche Horn. Und in der Tat ist es auch heute sehr oft so, dass das Wort „verhasst“ im Zusammenhang mit Juden erscheint. Zum Beispiel, wenn es um die Zöllner geht. Glaubt man modernen christlichen Predigten, dann waren die Zöllner bedauernswerte Zeitgenossen. Sie lebten einsam und allein in ihrer Zollstation, hatten keine Freunde, wurden von allen Menschen gemieden und von der Gesellschaft geächtet. Aber war das wirklich so? Ein genauerer Blick in die historischen Zeugnisse aus der Zeit Jesu kann uns helfen, dieses verbreitete Bild etwas zurechtzurücken.

Typisch jüdisch?

Ganz ohne Zweifel waren Zöllner in der Antike unbeliebt. Das war aber zunächst einmal keine Spezialität der jüdischen Religion, sondern lag an ihrem Beruf: Niemand zahlt gerne Steuern oder Zölle und die Wut der Bürger entlädt sich immer auf die, die das Geld eintreiben. Daher finden wir in vielen griechischen und römischen Quellen gehässige und bösartige Aussagen über Zöllner. Sie wurden als „habgierig“ und „unerbittlich“ beschimpft und der römische Schriftsteller Julius Pollux zählt insgesamt 39 Schimpfnamen auf, mit denen man Zöllner beleidigen kann.

Vor dem Hintergrund dieser Tatsache fällt es nun aber auf, dass ausgerechnet in den jüdischen Quellen solche gehässigen Angriffe gegen Zöllner nicht zu finden sind. Die Regelungen, die wir hier im Blick auf Zöllner vorfinden, beziehen sich vielmehr auf ganz konkrete Gesetzesfragen. Pauschale Beschimpfungen von Zöllnern dagegen finden wir nicht. Halten wir also fest: Zöllner waren unbeliebt, bei Juden wie bei Nichtjuden, weil niemand gerne Abgaben zahlte. Aber waren sie deshalb auch als Personen „geächtet“ oder „ausgestoßen“?

Unbeliebte Berufe und beliebte Menschen

Vielleicht kann man die Zöllner der damaligen Zeit am ehesten mit Politessen und Finanzbeamten von heute vergleichen. Bei denen haben viele auch das Gefühl, dass sie ihnen unnötig viel Geld abnehmen – dabei machen sie eigentlich einfach nur ihren Job. Deswegen sind sie bei vielen Leuten unbeliebt und man macht sogar böse Witze über sie. Aber damit meint man gewöhnlich nur den Beruf und nicht die Person. Es wäre absurd anzunehmen, dass Politessen oder Finanzbeamte keine Freunde hätten oder von ihren Familien ausgestoßen würden. Politessen und Finanzbeamte haben vermutlich in ihrem Privatleben ebenso viele Freunde und Feinde wie jeder andere Mensch auch. Nicht anders wird es auch bei den Zöllnern zur Zeit Jesu gewesen sein.

Diese Vermutung bestätigt sich auch bei einem Blick in die antiken jüdischen Texte: Sieht man einmal von den Aussagen über die Zöllner im Allgemeinen ab, finden wir hier keine Berichte von einzelnen Zöllnern, die als Personen unbeliebt oder ausgestoßen waren. Wir finden aber gleich mehrere Berichte über Zöllner, die sehr beliebt und angesehen waren: So gab es in der Nähe von Aschkelon einen Zöllner, der in seinem Dorf so beliebt war, dass das gesamte Dorf zu seiner Beerdigung erschien. Und das, obwohl zur Beerdigung eines frommen Gelehrten in demselben Dorf niemand auftauchte. Der jüdische Schriftsteller Josephus berichtet von einem Zöllner Johannes in Cäsaräa, der zu den angesehensten Juden der Stadt gehörte. Und auch der im Neuen Testament erwähnte Zöllner Levi hatte offenbar viele Freunde in der Stadt, die er zu seinem Gastmahl einladen konnte (Lukas 5,27-29). Ebenso kann man vom „Oberzöllner“ Zachäus wohl annehmen, dass er zu den Reichen und Schönen in Jericho gute Kontakte hatte. Im Talmud lesen wir sogar von Zöllnern, die Mitglieder in den Bruderschaften der Pharisäer waren. Ein unbeliebter Beruf bedeutet also noch lange nicht, dass auch die Person unbeliebt oder „ausgestoßen“ ist.

Zöllner unter Generalverdacht

Bei den Zöllnern kam aber noch ein zweites Problem hinzu: Denn sie standen in dem Ruf, ihre Position auszunutzen und mehr einzunehmen als vorgeschrieben oder erlaubt war. Sie waren nämlich im Prinzip selbstständig arbeitende Kleinunternehmer: Meistens hatten sie ihre Zollrechte nur von Großgrundbesitzern oder der Regierung gepachtet. Sie waren also verpflichtet, jährlich eine bestimmte Summe nach „oben“ abzuführen. Wie sie diese eintrieben, blieb ihnen selbst überlassen. Ihr eigener Gewinn bestand am Ende des Jahres aus den Mehreinnahmen, die sie machten. Da war es also durchaus üblich, dass ein Zöllner erhöhte Preise nahm oder sich unrechtmäßig bereicherte.

Im Fall von Zachäus wird das auch im Neuen Testament ausdrücklich bestätigt (Lukas 19,8). Und Johannes der Täufer spricht diesen heiklen Punkt ebenfalls an (Lukas 3,13). In den jüdischen Gesetzen finden wir deshalb gleich mehrere Regelungen, in denen die Gelder aus den Zolleinnahmen mit Diebesgut verglichen werden und die Zöllner mit Räubern: Man akzeptierte für die Almosensammlungen der Synagogen kein Geld aus der Steuerkasse (wohl aber aus dem privaten Vermögen eines Zöllners!). Beim Versöhnungstag gab es für Zöllner und für Räuber eine spezielle Vorschrift, der zufolge sie alles, was sie durch Diebstahl oder Betrug eingenommen hatten, fünffach zurückerstatten mussten. Und vor Gericht galten die Zöllner als unzuverlässige Zeugen, und zwar mit der Begründung, dass sie sich allzu oft als Betrüger entpuppt hatten.

Hier liegt also der zweite Grund, warum Zöllner unbeliebt waren: Sie standen unter Generalverdacht, Betrüger und Abzocker zu sein. Aber waren sie deshalb „Außenseiter“ oder „Geächtete“? Machte jeder fromme Jude deshalb einen Bogen um sie, wie es in Predigten gern berichtet wird? Wohl kaum. Auch hier mag ein modernes Beispiel helfen: Im Hinblick auf ihre Finanzspekulationen sind die Zöllner vermutlich am ehesten mit den Börsenmaklern und Topmanagern von heute zu vergleichen. Auch die stehen bei der Bevölkerung unter Generalverdacht, obwohl dieser Verdacht sicher viele auch zu Unrecht trifft. Aber dass sie deshalb keine Freunde hätten, kann man wohl kaum behaupten.

Was heißt eigentlich unrein?

Die beiden bisher beschriebenen Aspekte des Zöllner-Daseins haben mit dem jüdischen Glauben nichts zu tun. Hinzu kommt aber noch ein dritter Gesichtspunkt, und der hat in der Tat eine religiöse Komponente. Er ist aber nicht so einfach zu verstehen, weil es hier um die jüdischen Reinheitsgebote geht, über die man nochmal einen ganzen Artikel schreiben könnte. In aller Kürze lässt sich aber festhalten: Wer sich die biblischen Gesetze über Reinheit und Unreinheit genau ansieht, der stellt schnell fest, dass fast jeder Mensch zu fast jedem Zeitpunkt seines Lebens „unrein“ ist. Das ist aber nach biblischer Vorschrift auch gar nicht schlimm und schon gar nicht verboten. Es ist vielmehr der normale Lauf des Lebens. „Reinheit“ benötigt man nur, wenn man in den Tempel gehen will. Dann reinigt man sich durch bestimmte Waschungen, wartet bestimmte Zeiträume ab und kann anschließend in den Tempel gehen. Für den Alltag in einem Dorf in Galiläa wären diese Vorschriften im Prinzip bedeutungslos, denn dort gab es keinen Tempel, und man musste nur dann rein sein, wenn man zu den großen Festen nach Jerusalem pilgern wollte.

Dieser biblische Grundsatz wurde jedoch zur Zeit Jesu von den Pharisäern ausgeweitet: Sie wollten auch im Alltag wie Priester leben, und viele Juden, auch in Galiläa, schlossen sich diesem Anliegen an. Vor allem die Mahlzeiten galten jetzt als eine „gottesdienstliche Handlung“, vor der man sich symbolisch die Hände wusch. Dadurch achtete man nun auch im galiläischen Alltag auf Fragen der Reinheit und Unreinheit. Aber es galt nach wie vor der Grundsatz: Es ist weder verboten noch anstößig, unrein zu sein. Und es gab keinen Grund, unreine Personen zu meiden. Es sei denn, man war persönlich zu bequem und wollte die Umständlichkeiten vermeiden, die mit den entsprechenden Reinigungsvorschriften verbunden waren.

Ein Beruf mit religiösen Nachteilen

Vor diesem Hintergrund hatte der Beruf des Zöllners deshalb einen Nachteil: Es war unter anderem die Aufgabe eines Zöllners, in Häuser zu gehen und dort die Besitztümer einer Familie zu inspizieren. Dafür musste der Zöllner im ganzen Haus Gegenstände anfassen, Lebensmittel abwiegen, in Kleiderstapeln herumwühlen und Geschirr anfassen. Es ließ sich also nicht vermeiden, dass er sich dabei unrein machte. Und mehr noch: Weil er so von Haus zu Haus ging, galten auch die Häuser, die er inspizierte, solange als unrein, bis die erforderlichen Reinigungsvorschriften wieder vollzogen waren. Zöllner waren also berufsbedingt ständig in der Gefahr, sich zu verunreinigen, was für sie auchKonsequenzen hatte: Es gab sogar eine Zeitlang eine Regel, nach der ein Pharisäer aus seiner Bruderschaft ausgeschlossen wurde, wenn er den Beruf des Zöllners ergriff­. Diese Regel wurde aber später geändert: Man konnte auch als Zöllner Pharisäer bleiben, aber man hatte für die Dauer seines Berufslebens keine „Lizenz für Reinheitsfragen“ mehr, wie sie etwa pharisäische Händler oder Läden hatten.

Vor diesem Hintergrund nehmen manche Bibelausleger an, dass zumindest Pharisäer grundsätzlich ungern mit Zöllnern zusammen aßen, weil sie ja gerade beim Essen besonders auf Einhaltung der Reinheitsvorschriften achteten. Es wäre zwar nicht prinzipiell verboten (der Zöllner könnte sich ja schließlich auch – wie die Pharisäer – vor dem Essen reinigen). Es wurde aber vielleicht doch von manchen Pharisäern gemieden. Manche Ausleger deuten den Protest der Pharisäer in Luk 5,30 vor diesem Hintergrund deshalb so, als hätten Pharisäer (oder Juden) prinzipiell nicht – oder ungern – mit Zöllnern zusammen gegessen.

Das wird aber im Text nicht gesagt. Die Ausleger der alten Kirche hatten deshalb einen viel einfacheren, und auch naheliegender Vorschlag: Die Pharisäer waren nicht darüber verwundert, dass Jesus (als ein frommer Jude) mit Zöllnern isst. Sondern sie waren beleidigt, weil Jesus mit den Sündern und Sündern isst – anstatt mit ihnen (den ebenfalls frommen Juden), die doch viel besser zu ihm gepasst hätten.

Reinheitsfragen spielen hier also keine Rolle. Weder im Protest der Pharisäer, noch in der Antwort von Jesus. Deshalb sollte man sie auch nicht in den Text hineinlesen. 

Verbündung mit dem Feind?

Ein letzter Vorwurf, der heutzutage den Zöllnern ganz besonders gerne gemacht wird, findet sich in allen uns erhaltenen jüdischen Quellen nirgends: Es ist der Vorwurf, dass die Zöllner mit der feindlichen Besatzungsmacht „kollaborieren“. Das ist ein Vorwurf, der meines Wissens nach erst in den letzten Jahrzehnten auftauchte, im Zuge verschiedener „politischer Theologien“ der Sechziger- und Siebzigerjahre. Juden zur Zeit Jesu hatten dieses Problem aber o­ffensichtlich nicht, jedenfalls kommt es nie zur Sprache. Das mag zum einen daran liegen, dass die meisten Zöllner ihre Abgaben nicht für die Römer, sondern für die jüdische Regierung und für reiche Großgrundbesitzer eintrieben. Aber es liegt vermutlich auch daran, dass das beliebte Klischee von den „verhassten Römern“, ebenso wie das von den „verhassten Zöllnern“, sich in den jüdischen Quellen so nicht findet.

Im Blick auf die Zöllner können wir erst einmal festhalten: Der Vorwurf an die Juden, dass sie die Zöllner „ausstießen“, „ächteten“ oder „hassten“, ist an den antiken Quellen so nicht nachzuweisen. Vielmehr lebt hier wohl das alte judenfeindliche Klischee weiter, dass Juden „alle Menschen hassten“, die nicht ihren hohen religiösen Anforderungen entsprachen. Die alten Texte sprechen jedoch eine andere Sprache: Ja, der Beruf des Zöllners war unbeliebt, bei Juden wie bei Nichtjuden. Aber das bedeutete nicht, dass Zöllner keine normalen Beziehungen in ihrem Privatleben hatten. Und ja, Zöllner hatten einen schlechten Ruf als Betrüger und Ausbeuter. Aber auch das bedeutet keine soziale Ausgrenzung, wie man an vielen heutigen Beispielen sehen kann. Es bedeutet nur, dass man seine Sozialkontakte eher in der High Society hat als unter den armen Leuten. Und ja, Zöllner galten berufsbedingt als unrein. Aber unreine Menschen wurden im Judentum weder ausgegrenzt noch gehasst. Die meisten Juden waren die meiste Zeit ihres Alltags unrein, und das war weder verboten noch musste man unreine Menschen meiden.

Warum also waren die Pharisäer in Lukas 5 so erbost, dass Jesus mit Zöllnern und Sündern am Tisch saß? Sucht man nach einer modernen Veranschaulichung für die Predigt, sollte man nicht auf das Klischee vom armen, ausgestoßenen und einsamen Außenseiter zurückgreifen, der von Jesus freundlich behandelt wurde, während alle anderen Juden ihn hassten und ausgrenzten. Man sollte aber auch nicht das neue Klischee vom verhassten Kollaborateur bemühen. Das treffendste Beispiel wäre vielleicht eher das eines stadtbekannten Topmanagers einer Discountkette, der zusammen mit seinen Geschäftspartnern von einem Fairtrade-Aktivisten zu einer Geburtstagsparty bei McDonalds eingeladen wird. Da geht es nicht um Außenseiter oder religiöse Vorschriften, sondern um verbreitete Klischees und soziale Berührungsängste. Und um einen Gott, der alle Menschen zu sich einlädt. Ganz gleich, aus welchem Milieu sie kommen und wie viel Dreck sie am Stecken haben.

Wenn wir das Klischee vom ”jüdischen Hass auf die Zöllner” hinter uns lassen, dann wird der Blick frei für die eigentliche Botschaft der Zöllnergeschichten im Neuen Testament: Es geht nicht darum, dass Jesus die Ausgestoßenen annimmt. Denn die Zöllner waren ja weder ausgestoßen noch verhasst. Sondern es geht darum, dass Sünder umkehren und zu Jesusnachfolgern werden.

(Ursprünglich erschienen in: Faszination Bibel, jetzt neu abgedruckt in: SevenEleven 24/2025, SCM Verlag, S. 14-17. Originalartikel als PDF hier herunterladen)