„Niemand ist mehr in der Lage, ein Leben Jesu zu schreiben“, behauptete bereits im Jahre 1956 ein bekannter deutscher Theologe – und begann mit eben diesen Worten ein weiteres Buch über das Leben von Jesus. Die Zahl der Bücher, die dieses außergewöhnliche Leben beschreiben, ist kaum auszumachen.

Gerade in diesem Jahr noch hat eine Computerrecherche in der amerikanischen „Library of Congress“ ergeben, daß über keinen anderen Menschen der Weltgeschichte so viele Bücher geschrieben wurden wie über Jesus.

Die Anfänge der Jesus-Biographie

Es gehört zu den ungewöhnlichen Phänomenen der antiken Literaturgeschichte, daß bereits 50 Jahre nach seinem Tod schon vier verschiedene Berichte über sein Leben existierten, die zudem über nationale und kutlurelle Grenzen hinweg verbreitet waren und gelesen wurden. Die Autoren: Matthäus, ein Finanzbeamter aus Galiläa und persönlicher Freund von Jesus. Markus, ein junger Mann aus Jerusalem und Übersetzer des Petrus in Rom. Lukas, ein Arzt aus der heutigen Türkei und Reisebegleiter des Paulus. Und schließlich Johannes, ein Fischer aus Galiläa und ebenfalls ein enger Freund von Jesus. Ihre vier Berichte, die uns heute im Neuen Testament vorliegen, waren die Vorbilder für eine lange Reihe von Jesus-Biographien durch die Jahrhunderte. Und sie liefern bis heute das Material, aus denen sich alle diese Biographien speisen.

Alternative Jesus-Bilder

Schon hundert Jahre später allerdings begann man damit, neue Biographien zu schreiben, die einen „anderen Jesus“ zeigen sollten: Die sogenannten akopkryphen (d.h. verborgenen) Evangelien. Das älteste davon ist das „Thomas-Evangelium“, das Jesus als einen abgeklärten, weltfremden und streckenweise extrem frauenfeindlichen Weisheitslehrer darstellt. Noch später entstand das „Kindheitsevangelium des Jakobus“, das in liebevoll literarischen  Details beschreibt, wie der kleine Schuljunge Jesus seine Spielkameraden nervt, indem er aus Lehm lebendige Vögel entstehen läßt oder mit den nötigen Wundern nachhilft, um bei den Wettspielen zu gewinnen. Das Problem: Niemand weiß, woher die Autoren solcher alternativen Jesus-Biografien einige hundert Jahre nach Jesu Tod ihre neuen Informationen bezogen haben. Vermutlich eher aus ihrer Phantasie als aus irgendwelchen neu aufgetauchten Quellen. Oder eben aus dem wohlgemeinten Anliegen, einen Jesus zu zeigen, der die eigenen religiösen Ideale verkörpert und sie damit unangreifbar untermauert.

200 Jahre Jesus-Biographien

Ein Blick in die Jesus-Biographien der letzten 200 Jahre zeigt vor allem eines: Immer wieder haben sich Schriftsteller und Theologen darangesetzt, eine wirklich wissenschaftlich objektive Darstellung des Lebens Jesu zu schreiben. Und immer wieder neu mußten sie im Rückblick entdecken, wie auch ihr Jesus wieder nur ein Spiegelbild des jeweils herrschenden Zeitgeistes und ihrer eigenen ideologischen Überzeugungen war. Angefangen bei Gotthold Ephraim Lessing, der unter heftigem Protest der Kirchenoberen die „Fragemente eines Wolfenbütteler Ungenannten“ veröffentliche. Ein Jesus-Krimi, in dem der radikale jüdische Rabbi Jesus von seinen Anhängern verraten wurde, indem sie nach seinem Tod und gegen seinen Willen eine christliche Kirche gründeten: Jesus als Wegbereiter der Aufklärung und des Rationalismus – und der erste Antiklerikale. Die Jesus-Biographien der Romantik sahen dann wieder ganz anders aus: Ernest Renans Jesus zum Beispiel schlendert durch die malerischen, blumenübersäten Auen Galiläas, schwärmt von der Güte des allmächitigen Gottes und streicht kleinen Kindern sanft und liebevoll übers Haar. Albert Schweitzer, der eigentlich nur eine „Geschichte der Leben-Jesu Forschung“ schreiben wollte, hängt daran sein eigenes, von den Schrecken des ersten Weltkrieges geprägtes, Jesus-Bild an: Alle Religion ist gescheiterte Illusion – was bleibt, ist nur die Forderung nach Ehrurcht vor dem Leben. Dieser folgte er dann ja auch, hängte seine Theologenkarriere an den Nagel und ging als Tropenarzt nach Afrika. Rudolf Bultmann nahm dennoch die Suche nach Jesus wieder auf und schrieb eine Biografie mit dem schlichten Titel „Jesus“ –  obwohl er darin die Ansicht äußerte, daß wir vom Leben und von der Lehre Jesu „so gut wie gar nichts wissen können“. Und sein Jesus war – man hätte es erwarten können im Jahre 1926 – durch und durch Existentialist. Nach Bultmann folgten in der Reihe der theologischen Jesus-Biographien noch einige Bücher seiner Schüler. Sie alle brachten aber nur kleinere Variationen desselben Themas. Nicht-Theologen würden die Unterschiede kaum bemerken.

Jesus-Forschung auch für Nichttheologen

Zwei neuere Jesus-Biographien knüpfen an diese eher wissenschaftlichen Traditionen an und richten sich an theologisch interessierte, aber nicht unbedingt theologisch studierte Leute. „Der Schatten des Galiläers“ (Gerd Theissen, 1986) beschreibt die Spurensuche eines Zeitgenossen, der im Palästina des ersten Jahrhunderts nach Jesus sucht. Sein Pech: Immer, wenn er an einen Ort kommt, ist Jesus schon wieder weitergezogen, und er hört stets nur, was andere Leute über Jesus sagen. Hinter dieser spannend erzählten Geschichte steckt natürlich eine Grundüberzeugung, die der Theologieprofessor Theissen mit vielen seiner Fachkollegen teilt: Nämlich daß wir Jesus nie persönlich begegnen können, sondern immer nur in dem, was andere über ihn sagen. Jesus selbst bleibt dadurch eine schattenhafte Gestalt – so kündigt es ja auch schon der Titel an. Wertvoll ist das Buch allerdings, weil es einen guten Einblick gibt in die Zeitumstände des Neuen Testaments, in das Alltagsleben der Menschen zur Zeit Jesu und – in kleinen Exkursen am Rande – auch in die wissenschaftliche Diskussion um Jesus.

„Jesus aus Nazareth – ein Leben“ (Heinz Zahrnt, 1987) richtet sich an ein ähnliches Publikum, ist zwar nicht so originell in der Erzählweise, aber dennoch allgemein verständlich geschrieben. Auch dieses Buch geht im Grundsatz von der theologischen Diskussion der letzten 50 Jahre aus und beschreibt nüchtern, was es noch über Jesus zu sagen gibt, nachdem ein großer Teil der neutestamentlichen Schriften von deutschen Theologen für unzuverlässig oder unglaubwürdig erklärt wurde. Die Ergebnisse sind streckenweise nicht uninteressant, bleiben aber sehr blass und wenig herausfordernd.

Wissenschaftlich orientiert ist auch das Buch eines weltbekannten jüdischen Historikers (Geza Vermes: Jesus der Jude, 1993). Interessant ist es vor allem, daß Vermes als anerkannter Experte in Sachen jüdischen Literatur den Evangelien des Neuen Testamentes weit mehr Vertrauen entgegenbringt als die meisten deutschen Gelehrten. Er beschwert sich über die Unkenntnis, mit der deutsche Theologen seiner Meinung nach an diese Texte herangehen und entwirft ein Bild von Jesus, das zwar nicht dem christlichen Bild entspricht, an vielen Stellen aber radikaler und authentischer ist als das, was deutsche Theologen noch den Evangelien abgewinnen können.

Populäre Ver(w)irrungen

Natürlich konnte es nicht ausbleiben, daß der Boom in der Jesus-Literatur auch so manch eine exotische Frucht hervorbrachte. Es ist auch nicht verwunderlich, daß die Öffentlichkeit gerade von solchen Jesus-Büchern fasziniert ist, die eben nicht das enthalten, was man immer schon gewußt hat. Die Methode, mit denen diese „alternativen“ Jesus-Biographien arbeiten, ist immer dieselbe: Zunächst einmal wird die Zuverlässigkeit der neutestamentlichen Evangelien in Frage gestellt. Dann zaubert man aus der Hinterhand scheinbar neue oder bisher unbekannte Quellen hervor, aus denen man dann den ganz neuen Jesus rekonstruiert. Am gewinnträchtigsten ist dieser Coup den beiden Journalisten Baigent und Leigh gelungen mit ihrem Buch „Verschlußsache Jesus“ (1991), das monatelang die deutschen Bestsellerlisten toppte. Der politische Revolutionär Jesus, dessen Bruder Jakobus eine militante Widerstandsgruppe aufbaute, und der römische Agent Paulus, der die ganze Operation sprengte, indem er sich die christliche Religion ausdachte – ihre Geschichte wird ganz neu aus den Schriftrollenfunden von Qumran am Toten Meer rekonstruiert. Was die Autoren allerdings verschweigen, ist die Tatsache, daß weder Jesus noch Jakobus noch  Paulus noch irgendeine andere Person des Neuen Testamntes in diesen Schriftrollen erwähnt wird. Das wäre auch schwer möglich, sind sie doch zum größten Teil bereits 100 Jahre vor Jesus verfaßt worden.  Eine qualifizierte und klärende Antwort auf diese Volksverdummung lieferten seinerzeit die deutschen Theologen Otto Betz und Rainer Riesner (Jesus, Qumran, und der Vatikan, 1993)

Mit ähnlich zweilichtigen Quellen arbeitete zum Beispiel auch Gerald Messadie („Ein Mensch namens Jesus“, 19??): Er beschreibt einen blassen, schüchternen und zutiefst unsicheren Jesus, der sich während seinen Wanderungen durch Ägypten, Syrien und den Iran aus den verschiedenen Religionen seiner Zeit seine eigene Lehre zusammenbastelt und schließlich gegen seinen Willen zum Messias erklärt wird. Einen großen Teil seiner Erzählung gründet Messadie auf apokryphe Evangelien aus dem 4. Und 5. Jahrhundert. Andere Details, zum Beispiel daß Maria von einem ihrer betrunkenen Halbbrüder im Schlaf geschwängert wurde, entstammen wohl eher seiner eigenen Phantasie.

Zu den exotischen Früchten im Garten der Jesus-Biographien darf man wohl auch Franz Alt (Jesus – der erste neue Mann, 1989) zählen. Er zieht zwar keine neuen Quellen für seinen „neuen Jesus“ heran, wählt aber seine für echt erklärten Jesusworte so geschickt aus, daß ein völlig neues Jesusbild entsteht: Auch dieses entpuppt sich allerdings im Rückblick wieder ganz als Produkt seiner Zeit: Wo in den 50er Jahren die Mitmenschlichkeit und in den 70er Jahren die politische Revolution zählte und die Jesus-Bücher prägte, ist es bei Alt der Psycho-Boom: Jesus zeigt sich als weichherziger, therapeutisch geschulter, emotional ausgeglichener Mensch, der es als erster schaffte, männliche und weibliche Anteile in sich kreativ miteinader zu vereinen. Die Idee stammte eigentlich schon von Hanna Wolff (Jesus als Psychotherapeut, 1978), aber Franz Alt hat ihr zu einem populären Durchbruch verholfen. Natürlich paßt das Kreuz nicht zu einem solchen harmonischen Jesusbild, weshalb Jesus bei Franz Alt auch nicht am Kreuz stirbt, sondern lediglich sanft einschläft, um später wieder zu erwachen und als Wanderprediger gen Osten zu wandern. Vermutlich nach Indien, wo ihn schon viele Jesus-Biographen der 70er Jahre gern als hochbetagten Guru sterben ließen.

Evangelistische Jesus-Biographien

Ein Blick über den deutschen Büchermarkt hinaus zeigt, daß Jesus-Biographien auch ganz anders aussehen können: Dann nämlich, wenn sie nicht den „ganz anderen“ Jesus zu entwerfen versuchen, sondern wenn sie von einem Grundvertrauen in die neutestamentlichen Texte ausgehen und die dort enthaltene Botschaft für die heutige Zeit zu übersetzen versuchen. In neuerer Zeit hat das zum Beispiel Michael Green getan (Who is this Jesus?/ Wer ist dieser Jesus, 1990). Er liefert ein kurzes, spannend geschriebenes Taschenbuch, das Jesus, seine Person, seine Botschaft und seine Bedeutung in einfachen Worten erklärt. Es stellt Jesus ins Licht aktueller Zeitfragen und spricht die Sprache von nichtreligiösen Leuten. Und es ist eine evangelistische Einladung zum Glauben. Ähnlich kurz und mit gleichem Anliegen, allerdings speziell für Jugendliche geschrieben, ist das Buch „Jesus für heute“ (Guido Baltes, 1998). Lee Strobels Buch „Der Fall Jesus“ (??) wurde in „dran“ bereits ausführlicher vorgestellt, auch hier sind besonders die nichtkirchlichen, skeptischen Leser im Blick. Phlipp Yancey (Der unbekannte Jesus, 19??), in Amerika lange Zeit christlicher Topseller, besticht an vielen Stellen durch die Fülle an Material, die interessanten Lebenserfahrungen des weitgereisten Autors und durch die Tiefe an Reflexion. Dennoch muß ich als deutscher Leser ehrlich anmerken, daß das Buch mir über weite Strecken eher eine Abrechnung mit einem typisch amerikanisch-evangelikalen Jesus-Klischee zu sein scheint, das es Deutschland so kaum gibt.

Am Ende des Artikels komme ich in eine Zwickmühle, nämlich dann, wenn ich meinen persönlichen Favoriten in Sachen Jesus-Biographien nennen soll. Der ist nämlich immer noch „Faszination Jesus“ (Roland Werner/Guido Baltes). Ich darf das ohne Eigenlob so sagen, da der größte Teil des Buches von Roland Werner stammt und ich lediglich einen kleinen wissenschaftlichen Anhang dazu beigetragen habe. Das Buch verbindet fundierte theologische Arbeit mit erfrischend untheologischer Sprache. Es geht auf skeptische Fragen ein und nimmt an vielen Stellen unerwartete Wendungen. Es liefert Basisinformationen und fordert dennoch auch zu einer persönlichen Stellungnahme heraus. Nach wie vor meine persönliche Empfehlung, wenn es um die Frage geht: Wer ist Jesus?

Günther Bornkamm: Jesus von Nazareth (1956)

„Niemand ist mehr in der Lage, ein Leben Jesu zu schreiben“

Rudolf Bultmann (1926)

Heinz Zahrnt: Jesus aus Nazareth – ein Leben (1987)

Michael Green: Who is this Jesus? (1990)

Gerd Theißen: Der Schatten des Galiläers (1986)

Franz Alt: Jesus – der erste neue Mann (1989)

Hanna Wolff: Jesus als Psychotherapeut (1978)

Geza Vermes: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien (1993)

Otto Betz/Rainer Riesner: Jesus, Qumran und der Vatikan (1993)


Quelle: Jesus-Biografien im Überblick – dran 1/2000 S. 38-40 (727 kB)

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