Der neue Grundlagentext der EKD „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“ ist in vielfacher Hinsicht ein erfreuliches und wegweisende Dokument. Er betrifft mich in meinen verschiedenen Rollen als Pfarrer der evangelischen Kirche, als Neutestamentler und als Dozent an einer Bibelschule, die von pietistischer Bibelfrömmigkeit geprägt ist. Ausführliche Würdigungen und auch gründliche Rezensionen aus berufenem Mund werden sicher folgen. Meine ersten Leseeindrücke sind hier knapp zusammengefasst:

1. Ein tragfähiges Fundament

Der erste Teil des Dokuments formuliert solide und tragfähige Grundlagen für ein evangelisches Schriftverständnis: Die Schrift ist nicht nur Grundlage und Ausgangspunkt für den Glauben und für kirchliches Handeln, sondern auch deren „einziger Richter, Regel und Richtschnur“ (S. 48). Sie muss verantwortlich und sorgfältig ausgelegt werden. Dabei ist der buchstäbliche Sinn maßgeblich (44). Er wird durch eine Auslegung erschlossen, die sowohl historisch als auch kritisch arbeitet: Historisch fragt sie nach dem ursprünglichen Textsinn, den ein Text in seinem ursprünglichen kulturellen Umfeld hatte (44). Kritisch ist sie gegenüber interessegeleiteten Auslegungen jeder Art (43). Eine solches historisches Verständnis der Bibel soll aber nicht dazu führen, die Texte einfach zu relativieren (44). Und: Gute Auslegung beschränkt sich nicht auf eine rein historische Auslegung. Schriftauslegung muss vielmehr immer auch gegenwartsorientiert sein (45). Dabei bezieht sie wissenschaftliche Einsichten aus Biologie, Medizin, Psychologie, Geschichte und Wirtschaft ebenso mit ein wie kulturelle, ethische und politische Überlegungen, formuliert Handlungsoptionen und trifft entsprechende Entscheidungen (56-57).

Unterschiedliche Aussagen der Schrift zu müssen unterschiedlich gewichtet werden, und sie müssen von der Mitte der Schrift, von Jesus Christus her, gedeutet werden (7). In all dem lässt eine christliche Auslegung sich leiten vom Heiligen Geist (39). Es kann sein, dass unterschiedliche Ausleger zu unterschiedlichen Ergebnissen und Entscheidungen kommen: Dann soll Auslegungsvielfalt nach Möglichkeit respektiert werden, aber in bestimmten Situationen auch die Grenzen dieser Vielfalt markiert werden (73). Kirchenleitungen haben die Verantwortung, in wichtigen Fällen solche Grenzen zu benennen. Dabei soll jedoch die Gewissensfreiheit des einzelnen gewahrt bleiben, und auch die Eigenständigkeit der einzelnen Ortsgemeinden hat nach Möglichkeit Vorrang, denn „kirchenleitendes Handeln kann auch irren“ (73). Das alles sind erfreulich solide, weise abgewogene und prägnant formulierte Grundlagen eines evangelischen Schriftverständnisses, wie ich es in meiner theologischen Laufbahn kennen und schätzen gelernt habe (und das übrigens auch ganz selbstverständlich in der Welt der sogenannten pietistisch-evangelikalen Frömmigkeit, in der ich mich nun seit einigen Jahrzehnten bewege und die ich ganz gut zu kennen glaube).

2. Ein Schlüsselbegriff mit Chancen und Gefahren

Die große Stärke und zugleich Schwäche des Textes liegt, wie bei den meisten EKD Texten, in der Vieldeutigkeit und Deutungsoffenheit vieler Formulierungen. Was etwa ist gemeint, wenn die historisch verantwortete Schriftauslegung zwar den buchstäblichen Sinn eines Textes erschließen soll (44), aber gleichzeitig im Gegensatz zu einem buchstäblichen Verständnis der Bibel steht (86)? Wo genau liegt der Unterschied zwischen der lutherischen „Orientierung am Wortsinn“ (7) und einer „wortwörtlichen Fixierung auf den Buchstaben“ (57)? Inwiefern ist der sperrige Begriff des „Überlegungsgleichgewichts“ ein hilfreicher Lösungsvorschlag, wenn lediglich von einer Vielfalt der Aspekte gesprochen wird, die unterschiedlich gewichtet miteinander ins Gleichgewicht gebracht werden müssen? In dieser Offenheit ist es eine banale Einsicht. Hilfreich wäre sie nur, wenn man die Aspekte konkret benennen und ihre Gewichtung bestimmen würde (was aber zu Recht nicht getan wird, weil es so gar nicht möglich ist). Weitere Beispiele unscharfer und daher deutungsoffener Formulierungen wären zahlreich. Die zentralste Stellung innerhalb des Dokuments kommt allerdings dem Begriff des „Evangeliums“ zu, der durch das ganze Dokument hindurch immer wieder an solchen Stellen auftaucht, wo man traditionell den Begriff der „Schrift“ erwartet hätte. Das Evangelium tritt damit weitgehend an die Stelle der Schrift als Gesamtheit. Das ist einerseits nachvollziehbar, zumal das Evangelium zu Recht als „Mitte der Schrift“ verstanden wird.

Gleichzeitig aber ist es eine fundamentale Akzentverschiebung: Denn die „Schrift“ liegt den Auslegern, so unterschiedlich sie auch sein mögen, objektiv und (weitgehend) unveränderlich vor. Zwar bedarf sie immer der Auslegung, aber solche Auslegung, so verschieden sie auch sein mag, muss sich immer auf den vorliegenden Text beziehen und aus diesem begründen. Das „Evangelium“ hingegen gibt es nicht „an sich“ (45). Es immer schon ein Ergebnis, nicht der Ausgangspunkt von Schriftauslegung. Unterschiedliche Schriftauslegungen, die sich an einem jeweils unterschiedlichen Evangelium orientieren, müssen also in Zukunft immer zuerst einmal Auskunft geben, was denn dieses Evangelium sei, von dem her sie die Schrift deuten. Das macht gemeinsame Auslegung komplizierter und – so ist es sicher auch gewollt – vielfältiger. Der Grundlagentext der EKD macht viele verschiedene Angebote, was denn dieses Evangelium sein könnte. Manche sehr präzise, manche sehr vage. Darunter auch – mehrfach und an zentraler Stelle – mit Verweis auf das vielzitierte vermeintliche Luther-Wort „Was Christum treibet“ (das dieser nachweislich weder so gesagt noch in diesem Sinne gemeint hat). Das zeigt, dass die durchgängige Fokussierung auf den Begriff des Evangeliums (anstelle der Schrift in ihrer – gewichteten – Gesamtheit) zumindest offen ist für eine Deutung, die sich weniger an der Schrift selbst als vielmehr an bestimmten Traditionen einer volkskirchlichen Lutherrezeption orientiert. Gewünscht hätte ich mir daher, dass die richtige Einsicht „Die Schrift muss immer vom Evangelium her gedeutet werden“ im Sinne eines Überlegungsgleichgewichts mit der ebenso wichtigen Einsicht „Das Evangelium muss immer erst durch Schriftauslegung erschlossen werden“ ergänzt worden wäre.

Vieldeutigkeit und Deutungsoffenheit lassen sich aber in Texten wie diesem natürlich nicht vermeiden. Sie sind eben beides, Stärke und Schwäche. Ihre Stärke ist es, dass viele Menschen unterschiedlicher Traditionen sich in den Formulierungen wiederfinden. Ihre Schwäche ist es, dass sie durch ihre Uneindeutigkeit die Konflikte, die sie zu klären versuchen, oft eher umgehen, oder im schlimmsten Fall noch verstärken. Es wird also darauf ankommen, wie diese Vieldeutigkeiten in Zukunft genutzt werden. Konstruktiv als Hilfe, zur gemeinsamen Mitte zu finden. Oder destruktiv als Gelegenheit, neue Extreme auszuloten und dann auch auszureizen.

3. Ein verwunderlicher Schriftbeweis

Der exegetische Kernteil des Papiers, eine ausführliche Auslegung von 1. Kor 8, ist für mich allerdings ein Beispiel für eine misslungene Anwendung dieses vieldeutigen Evangeliumsbegriffs. Er macht zugleich deutlich, dass der hier beschriebene Weg der verantwortlichen Schriftauslegung nur dann sinnvoll beschritten werden kann, wenn kirchenleitende Organe auch bereit sind, auf die Stimme der Exegetinnen und Exegeten zu hören. Dass das in der Praxis oft aus Zeit- und Kompetenzgründen oft nicht gelingt, räumt das Papier gleich am Anfang in beachtlicher Ehrlichkeit ein (19). Dafür Chapeau und Respekt. Dennoch wundert es mich, dass die theologische Kammer der EKD, der ja durchaus namhafte und kompetente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den exegetischen Fachrichtungen angehören, diese exemplarische und paradigmatische Schriftauslegung in dieser Form in den Text aufgenommen hat. Meine Vermutung ist, dass hier am Ende, wie oft, die praktischen und systematischen Theolog:innen über die Minderheit der Exeget:innen obsiegt haben. Aber ich kann mich natürlich täuschen. Dann mögen die Exeget:innen mir verzeihen.

Die Kernthese des Schlüsselabschnittes, und damit auch seine Relevanz für die Frage der Schriftauslegung lautet, es müsse „bisweilen möglich sein, dass Gläubige für sich persönlich zu verschiedenen Erkenntnissen und Handlungsweisen kommen, sich gleichzeitig im Raum der Gemeinde aber um ein miteinander abgestimmtes und einträchtiges Verhalten bemühen.“ (66)

Begründet wird die These durch eine Auslegung von 1. Kor 8, wie sie für das EKD Papier nicht einzigartig ist, sondern sich so oder ähnlich heute vielfach in Kirchen und Gemeinden zu finden ist: Es habe in der Gemeinde von Korinth zwei Gruppen gegeben. Die „Starken“ hatten aufgrund ihres Glaubens an die Freiheit des Evangeliums keine Skrupel gehabt, an den Festen fremder Gottheiten teilzunehmen und dort auch das angebotene Opferfleisch zu essen. Die „Schwachen“ dagegen hätten solche Skrupel gehabt, weil sie die Freiheit des Evangeliums noch nicht ganz verstanden haben und sich daher noch an jüdische Gesetze, wie etwa das Verbot des Götzendienstes, gebunden fühlten. Paulus selbst zähle sich zwar zu den „Starken“ und habe daher sicher auch ohne Gewissensbisse an solchen Mahlzeiten teilgenommen. Er rufe jedoch die „Starken“ dazu auf, in Rücksicht auf die „Schwachen“ auf ihre Freiheit zu verzichten, um diese nicht vor den Kopf zu stoßen oder dazu zu verleiten, ebenfalls an den Mahlzeiten teilzunehmen. Fazit: Zwar haben (aus Sicht des Evangeliums) die Starken Recht und die Schwachen Unrecht (S. 65), aber (aus Sicht der Liebe) sollten sich die, die eigentlich Recht haben, an denen orientieren, die schwach sind und das Evangelium noch nicht ganz verstanden haben. Fazit: Liebe fordert Rücksicht, auch gegenüber falschen (oder „schwachen“) Glaubenshaltungen und Schriftauslegungen.

Nun kann man natürlich über Auslegungen streiten. Ich habe in meiner Zusammenfassung schon einige Aspekte dieser Auslegung überspitzt hervorgehoben, die so im EKD-Text nicht formuliert, aber doch impliziert sind. Und natürlich erhebe ich nicht den Anspruch, dass meine Auslegung in diesem Fall die richtige ist. Ich habe den Text an anderer Stelle ausführlich ausgelegt und dabei auch gründlich Fachliteratur angegeben (Guido Baltes: Paulus – Jude mit Mission, Francke 2016, 255-279). Um den Eindruck persönlicher Voreingenommenheit zu vermeiden, zitiere ich hier stattdessen hier nur kurz aus einem neueren Fachkommentar zum Korintherbrief von einer Autorin, deren Fachkompetenz einerseits unstrittig sein dürfte, die andererseits aber nicht im Verdacht steht, einer evangelikal-pietistischen Bibelfrömmigkeit besonders nahe zu stehen:

„Die Annahme einer Gruppe von Starken und Schwachen in der korinthischen Gemeinde ist in der älteren Auslegungstradition mit einer antijudaistischen Vorstellung von Freiheit nach Paulus verbunden: Paulus selbst und die Starken leben die Freiheit vom Gesetz, der jüdischen Tora, und setzen sich über die jüdischen Skrupel gegenüber Fremdopferfleisch hinweg […]. Auch wenn in der Regel in der neueren Auslegung dieses Muster nicht mehr in seiner vollen Konsequenz benutzt wird, finden sich doch Teilelemente daraus in der Annahme einer Sachdifferenz zwischen Paulus und jüdischer Praxis oder der einer Sachdifferenz zwischen Paulus und der Alten Kirche in dieser Frage“ (Luise Schottroff, Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth, Stuttgart 2013, S. 151).

Mit anderen Worten: Die verbreitete Behauptung, Paulus habe es aus seinem Verständnis der „Freiheit des Evangeliums“ für unerheblich gehalten, ob man das fremden Göttern geopferte Fleisch esse oder nicht (und damit nach außen eine Teilnahme an ihrem Kult signalisiert), ist eine alte antijüdische Tradition, die versucht, einen Keil zwischen Paulus und das antike Judentum zu treiben.

Diese Auslegung ist jedoch ungefähr das Gegenteil von dem, was die neuere Exegese zu 1.Kor 8 und 10 wirklich sagt: Beide Texte enden mit einem klaren Urteil des (Juden) Paulus, dass man als Christ, wie auch als Jude, solches Fleisch keinesfalls essen sollte. Nicht, weil es tatsächlich andere Götter gäbe. Sondern weil man bei seinen Mitmenschen (für die Christus gestorben ist), den Eindruck erweckt, man würde neben Christus auch noch andere Gottheiten verehren. Ein Eindruck, der sie wiederum dazu verleitet, diese Götter tatsächlich zu verehren und sie damit ins Verderben führt (1. Kor 8,13). Lediglich dann, wenn die Herkunft des Fleisches unbekannt ist, kann es bedenkenlos gegessen werden. Man muss dann auch nicht nachfragen, ob es sich vielleicht um Opferfleisch handelt (1. Kor 10,25). Sobald aber bekannt ist, dass es sich um Opferfleisch handelt, ist es auch hier weder eine Frage der Gewissensfreiheit noch ins Belieben des Einzelnen gestellt, sondern die Anweisung des Paulus ist klar: Esst nicht davon (1. Kor 10,28)!

An dieser Stelle ist nicht genügend Platz, die heute gängige Auslegung der Texte ausführlich darzustellen. Die beiden genannten Literaturangaben mögen alle Interessierten dazu einladen, hier weiterzudenken. Wer nur wenig Zeit hat, kann aber auch ein paar eigene Stichproben machen und das EKD-Papier mit dem Bibeltext vergleichen:

a) „Andere beriefen sich demgegenüber auf ihre christliche „Erkenntnis“ (1Kor 8,1): Das Gesetz sei kein alles entscheidender Maßstab mehr für das christliche Handeln.“ (S. 61). Prüfen Sie, ob in 1. Kor 8 an irgendeiner Stelle von „Gesetz“ oder von „Geboten“ die Rede ist. Finden Sie auch heraus, ob die „Erkenntnis“ in 1. Kor 8 in irgendeiner Weise mit einer „Freiheit vom Gesetz“ verbunden wird. Prüfen Sie, ob die folgenden Verse (2-7) vielleicht Auskunft geben, welche „Erkenntnis“ es ist, auf die Paulus sich hier bezieht.

b) „Der Glaube an das Evangelium von Jesus Christus bringe die „Erkenntnis“ mit, an solche Einschränkungen nicht gebunden zu sein“ (S. 61-62). Prüfen Sie, ob Paulus in 1. Kor 8 an irgendeiner Stelle auf das Evangelium Bezug nimmt, oder ob andere Christen in Korinth ihre Meinung mit dem Glauben an das Evangelium begründen.

c) „Paulus stimmt den Vertreterinnen und Vertretern der Erkenntnis der christlichen Freiheit grundsätzlich zu (1Kor 8,4 – 6.8)“. Prüfen Sie, ob Paulus in den genannten Versen in irgendeiner Weise auf die „Erkenntnis der christlichen Freiheit“ Bezug nimmt, oder ob er lediglich der Erkenntnis zustimmt, dass es nur einen Gott gibt. Prüfen Sie, ob die „Freiheit“ in 1. Kor 8,9 sich auf die Freiheit vom Gesetz oder die Freiheit vom Glauben an fremde Götter bezieht.

d) „Er kann diese Gruppe als die ‚Starken‘ bezeichnen im Unterschied zu den anderen, den ‚Schwachen’“. Prüfen Sie, ob Paulus in 1. Kor 8 an irgendeiner Stelle von „Starken“ spricht. Prüfen Sie außerdem, ob mit den „Schwachen“ diejenigen Christen gemeint sind, die auf das Essen von Opferfleisch verzichten (also z.B. Paulus selbst in 8,13), oder aber diejenigen, die zum Götzendienst verleitet werden, gerade weil sie andere Christen beim Essen dieses Fleisches beobachten.

e) „Die christliche „Freiheit“ (1Kor 9,1) bringt auch „das Recht zu essen und zu trinken“ (1Kor 9,4) mit sich.“ Prüfen Sie, ob Paulus in Kapitel 9 des Korintherbriefs immer noch von der strittigen Frage nach dem Essen von Opferfleisch spricht, also on einem Recht darauf, Opferfleisch zu essen.

f) „Die durch Christus begründete Freiheit des Glaubens ist insofern eine höhere Norm als das konkrete biblische Gebot.“ Prüfen Sie, ob das in 1. Kor 9,4 erwähnte Essen des Paulus in irgendeinem Konflikt mit biblischen Geboten steht.

Mein Fazit: In diesem Abschnitt des EKD Grundlagentextes wird unter Rückgriff auf eine veraltete und im Kern antijudaistische Auslegungstradition und unter Vernachlässigung der im Grundlagentext so eindrücklich geforderten historischen und kritischen Sorgfalt eine „interessengeleitete“ Schriftauslegung vollzogen, die auf das unter Punkt (f) formulierte Interesse zusteuert: Die vermeintlich im „Evangelium“ begründete Freiheit vom Gesetz, die höher zu werten sei als konkrete biblische Einzelgebote, sogar als das in einem „Überlegungsgleichgewicht“ sicher nicht ungewichtige biblische Verbot des Götzendienstes.

Ich schließe noch einmal mit einem Zitat von Luise Schottroff:

„Für die vermeintlich Stärkeren ist ihre Entscheidung dorthin zu gehen [zum Essen des Opferfleisches] bequem. Sie passen sich an, werden zu Komplizen und Komplizinnen der herrschenden Strukturen, nehmen aber zugleich für sich in Anspruch, dem Gott Israels anzugehören. […] Für Paulus ist diese Anpassung Sünde, Sünde gegen die Geschwister und gegen den Messias (8,12).“ (S. 155-156)

4. Solide Grundlagen, wacklige Aufbauten

Der Grundlagentext der EKD ist aus meiner Sicht ein weithin gelungener Versuch, das in der reformatorischen Tradition gewachsene Schriftverständnis in einer veränderten gesellschaftlichen Situation aktualisiert darzustellen, zu begründen und für kirchenleitende Entscheidungen fruchtbar zu machen. Die zentrale Stellung des schillernden Begriffs „Evangelium“ ist dabei allerdings Chance und Gefahr zugleich. Wenn die Auslegung von 1. Kor 8, die im Text fraglos eine Schlüsselstellung einnimmt, den ersten Versuch darstellt, die hier vorgeschlagene Schriftauslegung „vom Evangelium her“ exemplarisch vorzuführen, dann ist dieser Versuch aus meiner Sicht misslungen. Er liest das vermeintliche Evangelium einer „Freiheit vom Gesetz“, das so von Paulus nirgends formuliert wird, in einen Text hinein, der weder vom Evangelium noch vom Gesetz spricht, und findet so zu einer Auslegung, die den Wortsinn des Textes, wie er sich aus Perspektive heutiger exegetischer Forschung erschließt, auf den Kopf stellt. Wäre diese Auslegung wegweisend für die Zukunft, dann wäre das enttäuschend.

Hoffnungsvoller stimmen mich die drei „Étuden“ am Ende des Textes: Hier kann ich den exemplarischen Umgang mit der Schrift und die daraus geschlossenen Folgerungen weitgehend zustimmend nachvollziehen, von Nuancen im Detail und in der Gewichtung einmal abgesehen.

Ich persönlich nehme mir deshalb vor, vor allem die Chancen des Textes zu sehen und zu nutzen: Gemeinsame (!) Schriftauslegung vom Evangelium her kann dann gelingen, wenn auch das Evangelium wiederum aus der Schrift selbst erschlossen wird, und nicht als Ass im Ärmel der Moderne gegen die Schrift ins Feld geführt wird.