Ein Bibeltext steht nie für sich allein. Immer ist er Teil eines größeren Zusammenhangs. Das sagt schon der Name, denn das lateinische Wort „Text“ bedeutet auf deutsch „Gewebe“, „Geflecht“ oder „Netzwerk“. Und es lohnt sich, dieses Geflecht von Beziehungen näher anzusehen, wenn wir einen Bibeltext richtig verstehen wollen.
Jeder von uns weiß, wie schnell es Missverständnisse gibt, wenn man eine Aussage „aus ihrem Zusammenhang“ reißt. Diese Erfahrung gilt auch für Bibeltexte.
Naheliegende Nachbartexte
So sind etwa die Texte, die einer Bibelstelle unmittelbar vorausgehen oder nachfolgen, oft von entscheidender Bedeutung. Bibelforscher nennen sie den „Kontext“, zu deutsch: den „Mit-Text“. Ohne diesen „Mit-Text“ gerät die Auslegung eines Textes schnell in die Schieflage. So haben sich etwa Generationen von Christen darüber Sorgen gemacht, was die unvergebbare „Sünde gegen den Heiligen Geist“ (Mt. 12,31-32) sei und ob sie sie vielleicht versehentlich begangen hätten. Ein Blick in den Mit-Text (Mt. 12,23-30) zeigt aber sehr deutlich, wovon Jesus hier redet: Nämlich nur davon, dass ein Mensch das Wirken Gottes in Jesus bewusst ablehnt. Ebenso wird die Aussage von Jesus über reine und unreine Speisen (Mk 7.18-23) oft so missverstanden, als hätte Jesus die jüdischen Speisegebote aufgehoben. Dabei zeigt ein Blick in den Mit-Text (Mk 7,1-8), dass es hier gar nicht um Speisegebote geht, sondern nur um die Frage, ob (erlaubte!) Speisen dadurch unrein werden, dass man sie mit ungewaschenen Händen isst. Die Pharisäer hatten hier für sich eine neue Regel eingeführt, die nicht aus der Bibel stammte. Jesus jedoch widerspricht dieser neuen Regel: Alle (erlaubten!) Speisen sind rein, auch dann, wenn sie mit ungewaschenen Händen gegessen werden. Von Schweinefleisch oder anderen verbotenen Speisen war hier überhaupt nicht die Rede. So kann ein Blick in den unmittelbaren „Mit-Text“ vor und nach einem Bibeltext helfen, Missverständnisse zu vermeiden und die Bedeutung von Bibeltexten zu erhellen.
Das Netz weiter spannen
Bibeltexte sind aber auch eingewoben in noch größere Zusammenhänge: So sind sie meistens Teil eines ganzen Buches oder Briefes, und sie haben eine bestimmte Rolle im Zusammenhang dieses Buches oder Briefes. Außerdem sind sie Teil des Neuen oder Alten Testaments – und ein Teil der ganzen Bibel. Beides verleiht ihnen jeweils zusätzliche Bedeutungsschichten. Wie bei einem persischen Teppich erkennt man daher die Schönheit eines einzelnen Musters oft erst dann, wenn man einen Schritt zurücktritt und den ganzen Teppich betrachtet. Oft sind in einen Bibeltext ganz bewusst Verknüpfungen zu anderen Bibeltexten eingeflochten: Ein roter Faden, der vielleicht schon hunderte Jahre vorher an einer anderen Stelle des Teppichs verwendet wurde, wird wieder aufgenommen und in ein neues Muster eingewoben. Oder ein ganzes Muster, das in einer Ecke des Teppichs schon zu sehen ist, wird an einer anderen Stelle noch einmal wiederholt. Solche Verknüpfungen zeigen sich oft erst beim genaueren Hinsehen. Aber es lohnt sich, danach Ausschau zu halten. Bibelforscher nennen das „intertextuelle Beziehungen“, also Beziehungen zwischen verschiedenen Geweben oder auch Verknüpfungen innerhalb eines Gewebes. An einem Textbeispiel soll das deutlich werden:
Der Anfang des Evangeliums
Der Evangelist Markus beginnt seinen Bericht von Jesus in sehr knapper Weise. Ich ändere die Übersetzung von Luther an einigen Stellen, damit die Einzelheiten deutlicher zum Vorschein kommen:
Anfang des Evangeliums von Jesus dem Messias, dem Sohn Gottes, wie es geschrieben steht im Propheten Jesaja. »Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg bauen soll.« »Die Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Steige eben!«: Johannes der Täufer war in der Wüste und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden. Und es ging zu ihm hinaus das ganze jüdische Land und alle Leute von Jerusalem und ließen sich von ihm untertauchen im Jordan und bekannten ihre Sünden. Johannes aber trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden und aß Heuschrecken und wilden Honig.“
Was auf den ersten Blick aussieht wie ein trockener Bericht von Johannes dem Täufer, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein kunstvolles Geflecht von Zusammenhängen, mit dem die Geschichte von Jesus von Anfang an in ein größeres Gesamtbild eingewoben wird. Für alle Leser, die den Text mit wachen Augen lesen, werden schon hier, in den ersten Sätzen, viele Signale gesetzt, die dabei helfen, die Botschaft des Evangeliums zu verstehen.
Die Rolle von Bibelzitaten
Die offensichtlichste Art, einen Bibeltext mit anderen Bibeltexten zu verknüpfen, ist natürlich das Zitat. Markus zitiert in diesem Text gleich zwei Verse aus dem Alten Testament. Oder sind es doch mehr? In vielen Bibeln sind hier zwei Parallelstellen angegeben: Maleachi 3,1 und Jesaja 40,3. Aber wer nachliest, bemerkt, dass Markus hier entweder schluderig zitiert hat oder aber ganz bewusst aus Teilen alttestamentlicher Bibelworte ein neues Muster gewebt hat. In Maleachi 3,1 steht nämlich eigentlich der folgende Satz: „Siehe, ich will meinen Boten senden, der vor mir her den Weg bereiten soll“. Es klingt sehr ähnlich, aber doch anders. Der bibelkundige Leser des Markus wird aber vielleicht noch an einen anderen Vers erinnert: Der steht in 2. Mose 23,20: „Siehe, ich sende einen Boten vor dir her, der dich behüten soll auf dem Weg“. Auch nicht ganz die gleichen Worte, aber ebenfalls sehr ähnlich. In manchen Formulierungen sogar ähnlicher. Es scheint, als habe Markus aus beiden Sätzen Teile genommen und sie zu einem neuen Satz zusammengeflochten. Warum? Man muss dazu die Methoden der Bibelauslegung kennen, die schon früh in der jüdischen Tradition entstanden sind. Eine dieser Methoden besteht darin, ähnlich klingende Bibelverse für die Auslegung miteinander zu verknüpfen und daraus ihren Zusammenhang deutlich zu machen.
Die Verse Mal 3,1 und 2. Mose 23,20 haben offenbar schon im Alten Testament eine besondere Beziehung zueinander. Es ist, als ob schon der Prophet Maleachi bewusst aus der Bibel zitiert, um eine neue Verheißung Gottes zu verkünden: So wie Gott dem Mose am Anfang der Geschichte Israels die Zusage eines „Wegbereiters“ gemacht hat, so wiederholt er sie jetzt, nach der babylonischen Gefangenschaft. Es ist, als wollte er einen neuen „Auszug aus Ägypten“ versprechen. Schon hier wird also ein roter Faden gesponnen, der vom „ersten Auszug“ der Vergangenheit aus auf einen „neuen Auszug“ in der Zukunft hinausläuft. Indem Markus beide Verse nun miteinander verflechtet, spinnt er diesen Faden weiter bis in die Jesusgeschichte hinein: Dieser Gott, der Moses aus Ägypten geführt hat und durch die Propheten eine bevorstehende neue Rettung angekündigt hat, der ist nun auch in Jesus am gegenwärtig. Aber damit nicht genug. Es folgt ein weiteres Bibelzitat, das nun auch noch den Propheten Jesaja mit einwebt in das entstehende Muster. Jesaja hatte dem Volk in der babylonischen Gefangenschaft die bevorstehende Rettung verkündet (Jesaja 40,3).
Wir werden später noch sehen, dass diese Verknüpfung mit dem Buch Jesaja auch schon durch die Schlüsselsorte „Evangelium“ und „Messias“ im ersten Vers des Textes hergestellt wird. Vorher aber möchte ich noch auf ein Detail im Teppichmuster hinweisen, das für das bloße Auge kaum erkennbar ist: Im deutschen Text der Lutherübersetzung taucht sowohl in Mk 1,2 als auch in Mal. 3,1 und Jes. 40,3 dasselbe Wort auf: „den Weg bereiten“. Im griechischen Urtext ist das aber nicht so. Markus ändert an dieser Stelle den Bibeltext und verwendet anstelle des gebräuchlichen Wortes „bereiten“ ein sehr ungewöhnliches, das er weder in Mal 3,1 noch in Jes. 40,3 vorfand. Ich habe es einmal mit „bauen“ übersetzt. War das Zufall, Schlampigkeit oder Absicht? Ich glaube es war Absicht. Das Wort, das Markus hier verwendet, taucht in der Bibel sonst sehr oft in Zusammenhang mit dem Schöpfungshandeln Gottes auf, und zwar besonders häufig im Buch Jesaja (40,19; 40,28; 43,7; 45,8; 45,9). Ein weiteres Mal erscheint es an sehr prominenter Stelle gleich am Anfang der Bibel (1. Mose 1,2): Hier wird es als Übersetzung für den hebräischen Ausdruck „tohuwabohu“ verwendet, also „wüst und leer“, oder auch „unbebaut, unbereitet“. Sollte das Zufall sein? Oder wollte Markus den roten Faden noch weiter knüpfen – über Maleachi und Moses zurück bis ganz zum Anfang, zur Schöpfung der Welt? Dann wollte er vielleicht sagen: So wie Gott am Anfang der Welt aus der „Wüste und Leere“ etwas ganz Neues „bereitete“, so wie er bei Moses in der Wüste seinem Volk den Weg bereitete und einen neuen Anfang machte, und so wie es die Propheten mit dem Bild einer „neuen Schöpfung“ und eines „neuen Auszugs“ vorausgesagt hatten, tut Gott jetzt etwas ganz Neues. Die Geschichte von Jesus ist nur zu verstehen, wenn man sie in diesen großen Zusammenhang der Geschichte Gottes mit der Welt stellt: In Jesus beginnt eine neue Schöpfung und eine neue Rettung aus der Gefangenschaft.
Zitate aus dem Alten Testament werden von Christen oft nur als „Beweisstücke“ gesehen dafür, dass Jesus schon vorher angekündigt wurde und dass die Weissagungen auf wundersame Weise erfüllt wurden. Sie sind aber weit mehr als das: Die Zitate wollen eine Geschichte erzählen, sie wollen Brücken bauen und Fäden miteinander verknüpfen. Sie wollen den Leser einladen, tiefer in die Bibel einzutauchen und nachzuforschen, welches größere Muster sich hinter dem kleinen Ausschnitt verbirgt. Dieser Einladung sollten wir unbedingt folgen, wenn wir auf solche Zitate stoßen
Verborgene Anspielungen
Neben den offensichtlichen Zitaten gibt es aber auch eine andere, verstecktere Weise, Verknüpfungen zu anderen Bibeltexten herzustellen: Die Anspielung. Wir haben eben schon gesehen, wie ein kleines und unscheinbares Wort wie „bereiten“ ein Türöffner sein kann zu anderen Bibeltexten. In diesem Fall ist es für den modernen Bibelleser nicht so gut erkennbar, aber für die ersten Christen war es offensichtlicher. Sie merkten, dass Markus hier vom ursprünglichen Wortlaut seiner Bibel abwich, noch zudem mit einem sehr seltenen Wort, das ihnen aber aus einer anderen, sehr bekannten Bibelstelle vertraut war. So konnten sie die Anspielung auf den Schöpfungsbericht verstehen und dem Wegweiser folgen. Umso mehr, weil Markus kurz vorher bereits eine zweite Anspielung in seinen Text eingebaut hatte, die in die gleiche Richtung wies: Er begann seinen Bericht von Jesus mit dem Wort „Anfang“. Und es gab in der jüdischen Bibel nur ein weiteres Buch, das mit dem Wort „Anfang“ begann: Das erste Buch Moses. So wie das Alte Testament also mit dem Wort „Am Anfang“ begann, so begann auch das Neue Buch von Jesus (das ja erst im Entstehen war), mit dem Wort „Anfang“. So nahm Markus gleich zu Anfang seine Leser mit auf die Reise zum Anfang der Bibel. Und er sagte: Was hier passiert, ist auf gleicher Stufe wie die erste Schöpfung der Welt. Aber sein Bericht ist voll von weiteren solcher Anspielungen: An welche Geschichten des Alten Testaments etwa ein bibelkundiger Leser erinnert, wenn er davon hörte, dass Johannes Menschen „in den Jordan tauchte“? Es gibt nur zwei Geschichten, in denen jemand sich (oder seine Füße) in den Jordan taucht: Den Einzug des Volkes ins gelobte Land (Josua 3,15) und die Heilung des Syrers Naeman (2. Kön 5,14).
Hier wird also eine doppelte Verknüpfung hergestellt: Wie schon die Bibelzitate, so verbindet auch die Taufe des Johannes das Jesusgeschehen mit dem Auszug aus Ägypten und dem Einzug ins gelobte Land: Die Taufe ist also wie ein Neuanfang Gottes mit seinem Volk und Eingangstor in das „gelobte Land“, an der gleichen Stelle, an der Gott schon früher mit seinem Volk den Neuanfang gemacht hatte. Aber sie ist mehr als das: Sie verweist nämlich auch auf den Propheten Elia und den Syrer Naeman: Durch Elia hatte Gott deutlich gemacht, dass sein Heil weiter reicht als nur bis an die Grenzen Israels: Der Syrer Naeman erfuhr Rettung, als er sich, wie seinerzeit das Volk Israel, in den Jordan tauchte. Und die Witwe von Sarepta erlebte das gleiche. An beide erinnerte Jesus später bei seiner Predigt in Nazareth (Luk 4, 24-27, auch das eine „Anspielung“, kein Zitat!). Und noch mehr als das: Elia war es auch, der vom Propheten Maleachi als Vorbote und Wegbereiter des Messias angekündigt wurde (Mal 3,1 und 3,23). Die Bibelzitate und der Ort der Taufe sprechen also, zusammen genommen, eine deutliche Sprache: Sie wenden den Blick in die Vergangenheit, als Gott sein Volk rettete und in das gelobte Land führte, und wo dann auch Einzelne Vertreter der „Heidenvölker“ durch Elia Heil und Rettung fanden. Und sie wenden den Blick gleichzeitig in die Zukunft, in der der „wiederkommende Elia“ als Vorbote des Messias das Volk (und die übrigen Völker) erneut zum Heil führen wird.
Wem das alles zu weit hergeholt erscheint, den überzeugt vielleicht eine weitere Anspielung, die ganz bestimmt kein Zufall ist: Johannes der Täufer trägt „einen ledernen Gürtel um seine Lenden“ (Mk 1,6). Ein scheinbar unwichtiges Detail? Sicher nicht. Denn genau dieselbe Formulierung findet sich nur ein weiteres Mal in der Bibel: In 2. Kön. 1,8 erkennt man an dieser Beschreibung den Propheten Elia.
Signalworte erkennen
Neben Zitaten und Anspielungen werden Verknüpfungen manchmal auch ganz einfach durch bestimmte Signalworte hergestellt. Deshalb lohnt es sich immer, wichtigen Worten und Begriffen eines Textes anhand einer Konkordanz durch die ganze Bibel zu folgen: Wo taucht ein bestimmtes Wort zum ersten Mal auf? Was bedeutet es dort? Welche Bilder und Assoziationen verband ein Leser zur Zeit der ersten Christen oder zur Zeit des Alten Testaments mit einem bestimmten Wort oder Begriff? Hier tun sich oft wahre Fundgruben auf. Aus unserem Beispieltext sei hier nur ein „Signalwort“ aus dem allerersten Satz genannt: Das Wort „Evangelium“. Woher stammt dieses Wort? In vielen Predigten hören wir, dass es das Wort war, mit dem der Kaiser in Rom seine „guten Nachrichten“ von Siegen, Steuererlässen oder königlichem Nachwuchs im ganzen Reich verkünden ließ. Das ist auch richtig. Aber auch in der Bibel taucht das Wort auf, und zwar – inzwischen können wir es uns denken – beim Propheten Jesaja. Es wird da verwendet, wo Jesaja von den „Freudenboten“ spricht, die Zion das Heil und die bevorstehende Königsherrschaft Gottes verkünden (Jesaja 52,7). Das Wort „Evangelium“ ist weder ein typisches noch ein häufiges Wort im Alten Testament. Vielleicht haben die griechischen Übersetzer des Alten Testaments sogar ganz bewusst diese Vokabel vom „königlichen Nachrichtensprecher“ hier für ihre Übersetzung verwendet. Damit, dass auch Markus gerade dieses seltene Wort hier aufgreift, möchte er ganz sicher eine Verknüpfung zu dieser Vorhersage des Propheten Jesaja herstellen. Er sagt es ja sogar deutlich am Ende des Satzes: „Anfang des Evangeliums …, wie es von Jesaja angekündigt wurde.“ Dieser Satz bezieht sich ja ganz eindeutig auf die Worte, die ihm vorangehen, und nicht auf das Bibelzitat, das ihm nachfolgt (siehe Kasten). Das Wort „Evangelium“ ist daher ein Signalwort, das die Geschichte von Jesus, wie sie im Folgenden erzählt wird, von Anfang an als Erfüllung dieses Jesjawortes kenntlich machen will. Es ist wie eine Widmung, die den Grundton des ganzen folgenden Buches setzt.
Ähnliches könnte über die anderen „Signalworte“ des ersten Satzes gesagt werden: Das Wort „Anfang“, das, wie schon gesehen, eine Querverbindung zum Anfang des Alten Testaments und zum Anfang der Welt herstellt. Das Wort „Christus“, das einen roten Faden von den Priestern und Königen des Alten Testaments bis hin zum verheißenen Retter der Zukunft spinnt (vgl. Jesaja 45,1 und Jesaja 61,1). Und der Begriff „Sohn Gottes“, der schon im Alten Testament eine Brücke von der Rettung des Volkes Israel aus Ägypten (Hos 11,1), über die Könige auf dem Thron Davis (Psalm 1) bis hin zum verheißenen Friedenskönig der Zukunft (2. Samuel 7,14) spannt. Alle diese Verknüpfungen werden hier von Markus aufgenommen und in sein kunstvolles Gewebe eingeflochten, mit dem er deutlich machen will, wer Jesus ist. Es lohnt sich also, solchen „Signalworten“ mit Hilfe einer Konkordanz oder eines Computers nachzuspüren, wo immer man sie findet.
Verknüpfungen nach vorne und zur Seite
Bis hierher haben wir vor allem die Querverbindungen betrachtet, die den Bibeltext nach „rückwärts“ mit anderen Bibeltexten verknüpfen. Das ist sicher oft auch die ergiebigste Blickrichtung, wenn es darum geht, einen Bibeltext zu verstehen. Dennoch lohnt sich auch die Suche in andere Richtungen: Wo gibt es etwa ähnliche Texte, die mit dem vorliegenden Text in enger Verbindung stehen? Bei unserem Beispieltext bieten sich etwa die anderen Evangelien an, die auch von Johannes dem Täufer berichten. Welche anderen Schwerpunkte finden wir dort und warum? Lukas etwa zitiert den Vers aus Jesaja 40,3 noch ausführlicher und macht damit deutlich: Der „Prediger in der Wüste“ verkündet nicht nur das Heil für das Volk Israel, sondern für alle Völker (Luk 3,4-5). Außerdem fügt er Angaben über die Könige und Hohepriester zur Zeit des Johannes hinzu, um die politische und weltweite Relevanz dieses „Evangeliums“ herauszustreichen. Solche Vergleiche zwischen den Evangelien nennt man „synoptische Vergleiche“ (von griechisch syn-optik, „zusammen sehen“), und sie sind meistens sehr lohnenswert. Aber ähnliche „Querverbindungen“ kann man auch z.B. zwischen der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen herstellen, zwischen der Johannesoffenbarung und den Johannesbriefen, oder im Alten Testament zwischen den Königs- und den Prophetenbüchern. Und dann gibt es natürlich noch die Verknüpfungen „nach vorwärts“: Wo hat unser Text seine Spuren in anderen Texten hinterlassen? Wird er irgendwo zitiert oder wird darauf angespielt? Bei unserem Beispieltext ist das (vermutlich) nicht der Fall, obwohl natürlich auf die Taufe des Johannes z.B. in der Apostelgeschichte (Apg. 1,22) angespielt wird, und die Frage, ob Johannes der wiedergekommene Elia sei, wird ebenfalls später noch diskutiert (Mk 6,15 u.ö.).
Ein Text und sein Beziehungsnetzwerk
Für Bibelleser und Bibelausleger ist es unerlässlich, diesem Netzwerk nachzuspüren. Zum einen vermeidet er so Missverständnisse und falsche Auslegungen, die entstehen, wenn man ein Bibelwort aus seinem Zusammenhang reißt. Zum anderen aber entdeckt man auch Schätze und Reichtümer, die man im Text selbst vielleicht gar nicht gefunden hätte. Die ersten Verse des Markusevangeliums scheinen auf den ersten Blick knapp, karg und rein informativ zu sein. Bei genauerem Hinsehen jedoch entpuppen sie sich als ein kunstvoll angelegtes Gewebe von Verknüpfungen und Beziehungen, mit dem Markus ein Netz spannt von der Schöpfung der Welt, über den Exodus des Volkes Israel und den Einzug ins gelobte Land, bis hin zu den Verheißungen der Propheten und der Erwartung des kommenden Elia. Und all diese Verknüpfungen haben ein Ziel: Deutlich zu machen, wer dieser Jesus ist, der im ersten Satz des Textes scheinbar nur ganz nebensächlich beim Namen genannt wird. Vielleicht erscheint es dem einen oder anderen Leser sehr schwierig, solche Querverbindungen selbst zu entdecken. Aber gerade hier liegt eine Chance: Denn man benötigt nicht viel mehr als eine Konkordanz und eine Bibel, um die Beobachtungen zu machen, die in diesem Beitrag zusammengetragen sind. Ich ermutige deshalb dazu, sich in Zukunft beim Lesen eines Textes auf die Suche zu machen nach dem „Netz der Beziehungen“, das dem Gewebe seine Farbe und sein Muster verleiht.
Quelle: Biblische Texte und ihre Querverbindungen – Faszination Bibel 4/2012, S. 56-59 (10 MB)
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