Jesus heilte am Sabbat. Das berichten die Evangelien immer wieder. Was aber wollte er damit eigentlich zeigen? Unsere Antwort auf diese Frage ist nicht selten geprägt durch unser Bild des Judentums – und manchmal leider auch durch eine mangelnde Kenntnis der jüdischen Quellen. Warum also heilte Jesus am Sabbat?

Es gibt verschiedene Antworten auf diese Frage. Für manche Bibelleser wird hier ganz grundsätzlich ein Bruch Jesu mit der jüdischen Religion deutlich: Gott geht es nicht um Religion, sondern um Beziehung. Deshalb habe Jesus ganz bewusst die religiösen Gebote gebrochen und damit seine Umwelt schockiert. Andere sind weniger radikal: Jesus hatte nichts gegen die jüdische Religion an sich, er wollte nur ein Zeichen gegen Gesetzlichkeit und Engstirnigkeit setzen: Gottes gute Gebote seien von den Juden falsch ausgelegt und mißbraucht worden. Jesus dagegen wolle deutlich machen, dass es vor allem auf die Liebe ankomme und nicht auf das Einhalten von Geboten. Wieder andere sehen in den Heilungen am Sabbat ein heilsgeschichtliches Zeichen: Die Sabbatgebote hatten ihren Sinn in der Zeit des Alten Testamentes. Nun aber sei eine neue Zeit angeboten, in der die Gebote des Alten Testaments ihre Bedeutung verloren haben. Deshalb konnte Jesus die Grenzen des Sabbats souverän durchbrechen.

Ernst Käsemann, ein führender Theologe der Nachkriegszeit, formulierte es pointiert: „Diese Souveränität erschüttert … die Grundlagen des Spätjudentums und verursacht damit entscheidend seinen Tod.“ Und auch für N.T.Wright, einen führendenTheologen der Gegenwart, kollidiert die Tagesordnung Jesu „in jedem Punkt“ mit der seiner Zeitgenossen, was sich vor allem in einer „Subversion und Relativierung der nationalen Symbole Israels“ zeige, allen voran des Sabbats. Aber ist es das eigentlich wirklich, was Jesus wollte? Oder lesen wir hier vielleicht etwas in die Evangelien hinein, was gar nicht drinsteht? Auch hier kann der Blick auf die Bibel durch die Brille des Judentums neue Perspektiven öffnen.

So fragen viele jüdische Ausleger: Wo steht denn eigentlich geschrieben, dass es verboten ist, am Sabbat zu heilen? In den biblischen Geboten zum Sabbat jedenfalls nicht. Dort steht nur, man soll ruhen und keine Arbeit tun. Und auch in den späteren Gesetzesauslegungen der jüdischen Rabbinen war das Heilen am Sabbat nicht grundsätzlich verboten. Es gab aber verschiedene Grundsätze, nach denen entschieden wurde, ob eine Heilung am Sabbat erlaubt oder verboten war. Und es sind genau diese Grundsätze, auf die sich auch Jesus bei seinen Heilungen am Sabbat beruft:

  1. Der Grundsatz der Lebensrettung (hebr. piqquach nefesch):

„Nichts ist am Sabbat verboten, wenn es darum geht, ein Leben zu retten – außer Mord, Ehebruch und Götzendienst“ (Tosefta Sabbat 15,17 u.ö.).

Jesus selbst beruft sich auf diesen Grundsatz: „Was ist am Sabbat erlaubt? Leben zu retten oder zu töten?“  (Markus 3,4). Es mag uns verwundern, dass Jesus diesen Grundsatz auf auch auf die Heilung einer verkrüppelten Hand anwendet. Aber er steht damit nicht allein da. Ein anderer Lehrer, Rabbi Mattia ben Cheresch, hat im 2. Jahrhundert sogar die Heilung von Halsschmerzen am Sabbat mit diesem Grundsatz begründet:

„Jede Beschränkung eines Menschenlebens setzt die Sabbatgebote außer Kraft“  (Mischna Joma 8,6).

Bis heute ist dieser Grundsatz im Judentum entscheidend für die Umsetzung der Sabbatgebote im Alltag: So steht es außer Frage, dass in Krankenhäusern am Sabbat der Betrieb weitergeht und auch alle anderen lebensnotwendigen Tätigkeiten erlaubt sind: Das Leben von Menschen hat auch am Sabbat äußerste Priorität. Was hier also zwischen Jesus und seinen Gegnern zu Debatte steht, ist nicht die Frage, ob man den Sabbat halten soll. Sondern lediglich die Frage, wie der Grundsatz der „Lebensrettung“ verstanden werden darf.

  1. Der Schluss „vom Unwichtigeren auf das Wichtige“ (hebr. qal wachomer)

An anderer Stelle begründet Jesus seine Heilung am Sabbat durch einen Vergleich mit einer anderen „Ausnahmeregel“: Nach jüdischer Tradition werden Kinder am 8. Tag nach ihrer Geburt beschnitten – und zwar auch dann, wenn es ein Sabbat ist. Hier „verdrängt“ also ein biblisches Gebot das andere. Jesus schließt daraus: Wenn selbst eine Beschneidung am Sabbat nicht verboten ist, warum sollte dann eine Heilung verboten sein (vgl. Johannes 7,23)? Dieser Schluss „vom Kleineren auf das Größere“ ist in der Gesetzesdiskussion der Rabbinen üblich und geht bis in die Zeit Hillels zurück, der eine Generation vor Jesus lebte. Hillel begründete damit, warum auch am Sabbat die Passalämmer geschlachtet werden sollen (Talmud Pesachim 66a). Ganz ähnlich wie Jesus argumentiert daher auch ein anderer jüdischer Lehrer des ersten Jahrhunderts:

„Rabbi Eliezer sagt: Das Gebot der Beschneidung wiegt schwerer als das Gebot des Sabbat. Wenn aber der Sabbat schon wegen eines so kleinen Körperteils ausgesetzt wird, wie viel mehr dann wegen eines ganzen Menschen!“ (Tosefta Sabbat 15,16)

  1. „Der Sabbat ist für den Menschen da“

Diesen Grundsatz zitiert Jesus zwar nicht im Zusammenhang mit einer Heilung, sondern bei einem anderen Streit über den Sabbat (Markus 2,27). Der Grundsatz selbst begegnet uns auch in der jüdischen Literatur öfters, zum Beispiel in einer Auslegung der Mosebücher:

„Es steht geschrieben: Haltet den Sabbat, denn er soll für euch heilig sein! (Ex. 31,12) Simon ben Menasia legte diesen Vers so aus: Für euch, das bedeutet doch: der Sabbat ist euch gegeben und nicht ihr dem Sabbat!“ (Mechilta zu Ex. 31,12)

Zwar ist es auch möglich, dass Simon ben Menasia diesen Satz erst aus dem Neuen Testament gelernt hat, denn er lebte im zweiten Jahrhundert n.Chr.. Wahrscheinlicher ist aber, dass Jesus und Simon hier auf eine ältere jüdische Auslegungstradition zurückgreifen.

  1. Das Schaf in der Grube

In Matthäus 12,8 führt Jesus eine weitere Begründung dafür an, warum eine Heilung am Sabbat erlaubt ist: „Wer ist unter euch, der sein einziges Schaf, wenn es ihm am Sabbat in eine Grube fällt, nicht ergreift und ihm heraushilft?“ (Matthäus 12:11) Auch hier denken manche Bibelleser, Jesus wolle seinen Gegnern Scheinheiligkeit vorwerfen: „Ihr haltet euch doch im Zweifelsfall selbst nicht an eure Gebote“. In Wirklichkeit aber beruft sich Jesus hier auf eine Art „Lehrbeispiel“ für die Sabbatfrage, die uns auch in anderen jüdischen Texten begegnet: Am Beispiel des Schafes, das in eine Grube fällt, konnte man nämlich gut deutlich machen, welche Art von Hilfeleistung am Sabbat erlaubt war und welche nicht. Die Meinungen gingen dabei durchaus weit auseinander. In der extrem strengen Gemeinschaft von Qumran etwa gab es in einem solchen Fall keine Ausnahmeregelung:

„Wenn ein Tier am Sabbat in eine Grube fällt, darf man es auf keinen Fall dort herausholen.“ (Damaskusschrift 11,13-14)

Die Rabbinen pharisäischer Prägung, die später auch die verbindlichen Gebote formulierten, waren hier weniger streng. Allerdings suchten auch sie nach Wegen, wie man dem Tier helfen konnte, ohne damit die Regeln des Sabbats zu verletzen. Einer dieser Wege wird im Talmud beschrieben:

„Rabbi Juda sagte in Rabs Namen: Wenn ein Tier in eine Grube fällt, kann man Kissen und Decken herbeibringen und in die Grube werfen, und wenn es dann von selbst hinausklettern kann, dann klettert es hinaus.“ (Talmud Joma 85 b)

Das Lehrbeispiel vom Schaf wird in Qumran, ähnlich wie bei Jesus, auch auf den Menschen übertragen. Und auch dabei geht es um das Detail: Man soll, so die Vorschrift, den Menschen nach Möglichkeit ohne die Hilfe von Arbeitsgeräten herausziehen, also nur mit bloßen Händen oder mithilfe von Kleidungsstücken. Denn so wird der Sabbat nicht verletzt.

Das Beispiel vom Schaf ist also gerade keine Rüge von Jesus für die vermeintliche Inkonsequenz seiner Gegner. Im Gegenteil, Jesus verwendet das bekannte Beispiel, um zu zeigen: Es ist sowohl möglich und auch erlaubt, am Sabbat zu helfen. Es kommt ganz darauf an, welche Mittel man wählt. Und das gilt nicht nur für Schafe in Gruben, sondern auch für Heilungen: Auch nach jüdischem Gesetz waren nämlich Heilungen am Sabbat nicht grundsätzlich verboten, sondern nur dann, wenn sie mit einer äußeren medizinischen Heilbehandlung verbunden waren (Tosefta Sabbat 7,23). Aber gerade das ist ja bei Jesus nicht der Fall. Seine Heilungen sind keine medizinischen Anwendungen und auch keine magischen Handlungen, sondern Wundertaten Gottes – also eben keine menschliche Arbeit. Das ist ja gerade das Besondere an ihnen. Und auch das, was die Gegner bezweifeln.

Hat Jesus also den Sabbat gebrochen? Die Berichte des Neuen Testaments sagen davon nichts. Jesus selbst behauptet es auch nirgendwo. Im Gegenteil: Er gibt sich alle Mühe, die Vorwürfe seiner Gegner zu entkräften – und zwar unter Berufung auf die jüdischen Gesetze. Warum aber gab es dann trotzdem immer wieder Streit um den Sabbat? Vielleicht, weil die Gegner Jesu eine strengere Auslegung der Sabbatgebote hatten als Jesus. Vielleicht aber auch, weil sie den tieferen Anspruch Jesu verstanden, der in den Heilungen am Sabbat sichtbar wurde.

Das bringt uns am Ende wieder zurück zu der Frage, worum es Jesus eigentlich ging. Vielleicht ging es ihm ja gar nicht um einen Konflikt zwischen Judentum und Christentum, zwischen Religion und Beziehung, zwischen Gesetzlichkeit und Freiheit, nicht um die Aufhebung des Gesetzes oder das Ende des Alten Testaments.

Vielleicht ging es ihm einfach darum, das Wesen des Sabbats zum Vorschein zu bringen:

Nach jüdischem Verständnis ist der Sabbat keine Last, sondern Geschenk: Ein Zeichen der Gegenwart und Herrschaft Gottes mitten in der Alltagswelt, und doch von ihr unterschieden. Eine Erinnerung an die ursprüngliche Ordnung der Schöpfung und ein Ausblick auf ihre endgültige Wiederherstellung. Das alles aber wird zeichenhaft deutlich, wo Menschen am Sabbat geheilt werden: Gottes Herrschaft zeigt sich mitten in der Welt, die Herrschaft des Bösen wird überwunden und Menschen erleben Heilung und Heil. Das ist der sichtbare Anbruch der messianischen Zeit und gleichzeitig ein Machterweis des messianischen Königs. Der Sabbat wird also durch die Heilungen Jesu weder gebrochen noch aufgelöst. Das ist auch nicht nötig. Denn Jesus kam, ihn zu erfüllen.


Quelle: Jesus, die Juden und der Sabbat: Ein Beispielfall – Faszination Bibel 2/2011, S. 32-34 (6 MB)

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