Viele Christen haben beim Lesen der Bibel eine sehr selektive Wahrnehmung. Sie lesen das Alte Testament durch die Brille des Neuen. Guido Baltes ist überzeugt, dass es sich lohnt, die Brille umzudrehen. Manche Bibelausleger schlagen vor, dass wir das Alte Testament nur noch „durch die Brille des Neuen“ lesen. Aber hier ist Vorsicht angebracht: Denn was wir für die „Brille des Neuen Testaments“ halten, kann sehr leicht auch die Brille unseres Zeitgeistes oder eines missverstandenen Neuen Testaments sein.

Ausleger und Forscher des Alten Testaments raten daher dazu, das Alte Testament zunächst einmal ganz ohne solche „Brillen“ zu lesen. Es ernst zu nehmen, so wie es ist. Danach zu fragen, wie es die Menschen des Alten Testaments wohl verstanden haben. Und schon darin ein gültiges Reden Gottes zu sehen. Ich finde, dass das ein weiser Vorschlag ist.

Wenn man aber dann gerne eine Brille aufsetzen möchte, schlage ich zur Abwechslung mal eine andere vor: Warum lesen wir nicht als Christen das Neue Testament „durch die Brille des Alten“? Das wäre jedenfalls historisch angebracht. Denn die Autoren und Leser des Neuen Testaments waren vom Alten Testament geprägt und lebten tagtäglich damit. Ihre Sprache, ihr Denken, ihre Bildwelt, ihr Glaube: All das war getränkt und gespeist mit Worten, Begriffen und Geschichten des Alten Testaments. Wir müssen daher immer, wenn wir das Neue Testament lesen, vom Alten Testament her denken. Das fängt schon bei der Sprache an. Es geht aber weiter bei den Inhalten, den wichtigen Themen, den Überzeugungen und dem ganzen Weltbild des Alten Testaments. Wir verstehen das Neue Testament nur dann richtig, wenn wir es aus der Perspektive des Alten Testaments heraus lesen.

Nur ein reduzierter Extrakt

Für unseren Umgang mit der Bibel macht es einen großen Unterschied, ob wir „das Alte Testament durch die Brille des Neuen lesen“ oder umgekehrt „das Neue Testament durch die Brille des Alten“:  Wer die erste Brille aufsetzt, der wird aus dem Alten Testament nur solche Aussagen für wichtig und relevant halten, die im Neuen Testament ausdrücklich aufgegriffen oder bestätigt werden. Wer dagegen die zweite Brille aufsetzt, der wird alle Aussagen des Alten Testaments für wichtig und relevant halten, denen im Neuen Testament nicht ausdrücklich wider-sprochen wird. Man kann sich leicht ausrechnen, dass bei der ersten Methode nur ein ganz dünner und reduzierter Extrakt des Alten Testaments seinen Weg in den christlichen Glauben hineinfindet. Bei der zweiten Methode jedoch wird der größte Teil des Alten Testaments zur selbstverständlichen Glaubensgrundlage auch für Christen.

Ein Beispiel, an dem der Unterschied deutlich wird, ist der Umgang mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Veränderung gesellschaftlicher Realitäten: Im Alten Testament ist es ganz selbstverständlich, dass Gott an einem gerechten und guten Zusammenleben der Menschen interessiert ist. Und zwar in dieser Welt, und nicht erst in der kommenden. Das fängt an mit der Befreiung eines realen irdischen Volkes aus realer, irdischer Unterdrückung. Es geht weiter über eine Gesetzgebung, die nicht nur die Beziehung zu Gott, sondern auch das alltägliche Zusammenleben in der Gesellschaft ordnet. Da wird für den besonderen Schutz der Armen und Ausländer gesorgt, für die Rechte der Frauen, Witwen und Waisen. Und es geht um eine gerechte Verteilung von Einkommen, Steuern und Abgaben. In den prophetischen Büchern werden diese Themen wieder und wieder angesprochen, und Gott ruft die Regierenden und Mächtigen auf, ihre Politik zu ändern. Durch das ganze Alte Testament hindurch wird deutlich, dass Gott diese Themen wichtig sind und brennend am Herzen liegen. Was man dagegen im Alten Testament nur am Rande findet, sind die Fragen nach dem ewigen Leben, nach Himmel, Hölle und dem Leben nach dem Tod. Im Neuen Testament dagegen wendet sich das Blatt: Fragen der irdischen Gesellschaftsordnung und Politik treten in den Hintergrund. Fragen der persönlichen Gottes¬beziehung und des ewigen Lebens werden zentral. Im Mittelpunkt steht nicht mehr so sehr das irdische Wohlergehen, sondern das ewige Heil. Abgesehen von seinem Prozess in Jerusalem redet Jesus kaum mit den Mächtigen und Regierenden, sondern mit Leuten aus dem einfachen Volk. Die sozialkritischen Botschaften der alttestamentlichen Propheten klingen bei ihm nur am Rande an. Natürlich kommen diese Themen auch bei Jesus hin und wieder zur Sprache. Aber wenn man ehrlich ist, sind sie nicht mehr zentral.

Hat sich der Fokus verschoben?

Die spannende Frage ist nun aber: Was macht man mit dieser Beobachtung? Viele Christen, die „das Alte Testament durch die Brille des Neuen“ lesen, sagen sich: Die Sorge für die Armen, die Kritik an den Regierenden, die Veränderung der irdischen Welt, soziale Gerechtigkeit: All das war Gott offenbar nur zur Zeit des Alten Testaments wichtig. Mit Jesus hat sich der Fokus verschoben. Gottes Prioritäten liegen jetzt auf dem persönlichen Heil und auf der jenseitigen Welt. Also muss man, vom Neuen Testament her, urteilen: Im Alten Testament geht es um „Vorläufiges“, Unwichtiges, Nebensächliches. Christen sollten damit nicht ihre Zeit verschwenden.

Wer jedoch „das Neue Testament durch die Brille des Alten“ liest, der wird zu einem ganz anderen Schluss kommen. Er wird sagen: Wenn diese Themen im Alten Testament so zentral waren, dann blieben sie ganz sicherlich für Jesus und die ersten Christen ebenso zentral. Denn sie hatten nur diese Bibel. Wenn sie von Gott und vom Glauben sprachen, dann meinen sie den Gott und den Glauben des Alten Testaments. Was im Alten Testament stand, das musste man deshalb nicht mehr eigens erwähnen. Es war jedem jüdischen Zuhörer Jesu klar, dass diese Dinge für Gott wichtig ist. Was im Neuen Testament gesagt wird, ersetzt also nicht das Alte, sondern ergänzt es. Was bisher wichtig war, bleibt wichtig und muss nicht noch einmal aufgeschrieben werden. Nur, was jetzt neu ist, das muss ausdrücklich gesagt werden. Alles andere gehört ganz selbstverständlich dazu.

Verheißungen für das Volk Israel

Ein anderes Beispiel ist die heiß umstrittene Frage der Land-verheißungen und der bleibenden Bedeutung des Volkes Israel: Traditionell wird dieses Thema, im Vergleich zum gerade genannten, zwar eher am entgegengesetzten Rand des politischen Spektrums hochgehalten. Aber das Prinzip bleibt das Gleiche. Hier sind es vor allem Bibelleser aus dem politisch eher linken Lager, die sagen: Land und Volk, das war doch nur im Alten Testament wichtig. Heute sind diese Themen nur noch ein politisches Relikt aus der Zeit des Kolonialismus und Nationalismus. Im Neuen Testament dagegen wird weder die Landverheißung für Israel noch die Verheißung der Nachkommenschaft ausdrücklich aufgegriffen. Also muss sie dort wohl unwichtig geworden sein. Gott geht es jetzt nicht mehr um ein Land, sondern um die ganze Welt.

Aber hier liegt natürlich wieder der gleiche Denkfehler vor: Zuerst einmal ist die Unterscheidung von „Land“ und „Welt“ für die Bibel grundsätzlich fremd. Sowohl im Griechischen als auch im Hebräischen sind „Land“, „Erde“ und „Welt“ ein und dasselbe Wort. Und nur aus dem Kontext heraus kann man entscheiden, was gerade gemeint ist. Zum anderen führt auch hier wieder die „Brille des Neuen Testaments“ zu einer falschen Verengung: Nur weil im Neuen Testament ein Thema nicht ausdrücklich erwähnt ist, muss es für Gott nicht unwichtig geworden sein. Für jüdische Leser zur Zeit Jesu reicht es völlig, dass es in ihrer Bibel, dem Alten Testament, steht. Denn sie hatten nur diese eine. Wenn es darin wichtig war, dann war es Gott offenbar wichtig. Es gibt daher keinen Grund, anzunehmen, dass die Landverheißung und die Nachkommenverheißung, die im Alten Testament so zentral sind, für Jesus oder für Paulus plötzlich unwichtig oder nebensächlich geworden wären. Wäre es so, müssten sie es ausdrücklich sagen. Denn jeder um sie herum glaubte an diese zentralen Verheißungen der Bibel. Es bleibt also nur die Annahme: Sie waren auch für Jesus und Paulus so selbstverständlich, dass sie nicht eigens wiederholt werden mussten.

Missverständnis 53: Die irdische Landverheißung und die Rolle Israels als irdisches Gottesvolk sind im Neuen Testament bedeutungslos geworden.

Das bedeutet nicht, dass man aus diesen Verheißungen direkte Schlüsse ziehen kann für tagespolitische Entscheidungen im heutigen Nahost-Konflikt. Denn wir wissen ja nicht, wann, wie und wo Gott seine Verheißungen erfüllen wird. Schon Abraham musste auf die Erfüllung der Landverheißung länger warten als er dachte. Moses und David ging es ebenso, und auch Petrus, Paulus, Theodor Herzl und  David Ben Gurion bilden da keine Ausnahme. Verheißungen kann man nicht herbeizwingen. Aber man kann für sie beten, auf sie warten und schon jetzt auf sie hin leben. Und so kann man auch heute als Christ die konkreten irdischen Verheißungen des Alten Testaments ernstnehmen und dennoch (oder gerade deshalb) für eine Lösung des politischen Konfliktes beten, hoffen und eintreten. Für eine Lösung, die für alle Völker einen Segen bringt. Denn so lautet ja schließlich die Verheißung.

Haus ohne Erdgeschoss

Das Alte Testament ist kein Steinbruch, aus dem man sich nach Belieben bedienen kann. Zwar gefällt dem einen dies, dem anderen das, je nach geistlicher, politischer und biographischer Prägung. Als Christen sollten wir aber jenseits dieser Prägungen die ganze Bibel ernstnehmen. Insbesondere den größeren Teil, das Alte Testament. Denn das war die Bibel, die Jesus las. David Stern, ein führender Theologe der messianisch-jüdischen Bewegung, hat einmal die christliche Bibel mit einem zweistöckigen Haus verglichen. Das Alte Testament bildet darin das Erdgeschoss, das Neue Testament den ersten Stock. Ohne den ersten Stock bliebe das Haus unfertig und nach oben offen. Ohne das Erdgeschoss aber würde der erste Stock in der Luft hängen – oder ganz in sich zusammenfallen. Als Christen sollten wir daher im Erdgeschoss ebenso zu Hause sein wie im ersten Stock. Ja, wir gelangen sogar immer nur durch das Erdgeschoss in den ersten Stock hinein. Und wir müssen es dafür nicht erst umräumen oder umbauen, sondern es so schätzen lernen, wie es ist. Ohne Abstriche und ohne Neuanstrich. Denn das Alte Testament, so wie es ist, ist die Bibel, die Jesus las. Und eine andere hatte er nicht. Das Neue Testament ist deshalb kein Neubau, der neben dem Alten Testament errichtet wird, und in dem man dann nur einen Teil der Möbel wiederfindet, die die Bewohner vielleicht aus dem alten Haus mitgenommen haben. Das Neue Testament macht nur Sinn als Teil eines größeren Gesamtbaus, den man nicht allein und für sich betrachten kann und darf.


Quelle: Hauskreis-Magazin 4/2013, S. 24-26 (3 MB)

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